Prozess gegen ehemaligen KZ-Wachmann: Die letzten Zeugen

Der Prozess gegen den ehemaligen Wachmann im KZ Stutthof geht über eine individuelle Aufarbeitung hinaus. Er wird auch zu einer symbolischen.

Der 93 Jahre alte ehemalige SS-Wachmann im KZ Stutthof und sein Anwalt Stefan Waterkamp sitzen im Landgericht Hamburg.

Der 93-Jährige Angeklagte und sein Anwalt (links) sitzen im Landgericht Hamburg Foto: dpa

Ich sitze vor Gericht und denke an die Lücke. Wachmann Bruno D., 93 Jahre alt, angeklagt wegen Beihilfe zum Mord in 5.230 Fällen im Konzentrationslager Stutthof, erzählt von seinen Erinnerungen. Er ist als Täter angeklagt – und gleichzeitig ein Zeuge.

Zeuge einer Zeit, die jetzt zur Lücke wird. So benennt Jan Assmann in „Das kulturelle Gedächtnis“ die Zeit, in der eine Generation von Zeitzeugen stirbt, die persönlich von einem Ereignis erzählen kann. Wir befinden uns gerade in diesem Stadium der Lücke. Die letzten Zeitzeugen des Krieges und des Holocausts sterben, die Opfer und die Täter.

Die Lücke ist eine sensible Zeit, weil wir nicht mehr unmittelbar durch Menschen von Vergangenem berührt werden. Ich spüre Angst, dass sich dadurch eher etwas wiederholt, was bereits geschah. Das Handeln von Bruno D. und der Umgang in diesem Prozess damit steht somit auch für einen Umgang mit dieser Zeit. Daher geht der Prozess über eine individuelle Aufarbeitung hinaus, er wird auch zu einer symbolischen.

Im Landgericht Hamburg wird deutlich: Erinnerung ist ein komplexer Prozess. Im Fall von Bruno D. ist es im doppelten Sinn ein Erinnerungs-Prozess. Zum einen gilt es, einem therapeutischen Prozess gleich, seine möglichen Verdrängungen aufzudecken, das Vergessen, seinen etwaigen Widerstand, das Vergangene hervorzuholen. Und zugleich wird mit diesem Erinnern auch seine Schuld oder Unschuld festgestellt. Was hat Bruno D. gesehen? Wusste er von den Morden? Machte er sich schuldig?

Es ist wichtig, dass das Geschehene sortiert und aufgearbeitet wird

Ich schaue auf die Richterin, die etwa fünf Meter schräg von dem Angeklagten entfernt sitzt, vom Pult oben zu ihm hinunter schaut. Ihn fragt, was er fühlte, was er dachte, was er roch. Und ich frage mich, ob es so in diesem Raum gelingen kann, verborgene Erinnerungen von vor 76 Jahren hervorzuholen. „Welche Bilder haben Sie denn im Kopf“, fragt die Richterin. „Was sind Erinnerungen, die Sie berichten wollen?“ „Ich habe angefangen zu verdrängen. Aber die Bilder gehen einem nicht aus dem Kopf“, sagt Bruno D. „Ich habe viele Leichen gesehen.“

Bruno D. kann sich sehr genau erinnern, wie er den Wehrdienst umgangen hatte, wie er gemustert wurde. Die Erinnerungen an das Konzentrationslager sind jedoch weitgehend verschwommen. Bruno D. stand auf einem Turm. Um ihn gab es eine Gaskammer, ein Krematorium, Öfen, eine Genickschussanlage, einen Galgen, einen Scheiterhaufen. „Das ist oft so“, flüstert eine Prozessbesucherin neben mir. „Die Täter können sich an vieles andere erinnern, aber nicht an das KZ.“

Bruno D. sagt, dass er froh war, dass er die Bilder verdrängen konnte, bevor dieses Verfahren begann. Die Grausamkeiten würden nun erneut wachgerüttelt werden. „So habe ich mir mein Alter nicht vorgestellt“, sagt er.

„Haben Sie auch gehört, dass Menschen deportiert wurden?“, fragt die Richterin. Dass es für die Angehörigen und Opfer wichtig sei, dass die Vergangenheit nicht vergessen werde. „Können Sie das verstehen?“, fragt sie. „Es ist schon so viel darüber gesprochen und verhandelt worden“, sagt Bruno D.

Der Anwalt der Nebenklage verliest zu Beginn einen Antrag, das Gericht müsse sich ein besseres Bild machen vom Lager als mit den Bildern der Powerpoint-Präsentation, die am Prozesstag zuvor gezeigt wurde. Ein Antrag auf eine Begehung in Stutthof wird gestellt. Die Erinnerung soll vor Ort für das Gericht erfahrbarer werden.

Es ist komplex, aus der Gegenwart über die Vergangenheit zu urteilen. Sich eine Meinung über einen 17-Jährigen zu bilden, der sich 76 Jahre später erinnern soll.

Manche fragen, was es bringe, einen 93-Jährigen vor Gericht zu stellen. So wichtig es ist, dass dieses Verfahren nicht symbolisch aufgeladen wird, ist es notwendig, dass es stattfindet. Es ist bedeutsam, dass der Angeklagte, so sehr er verdrängt hat und es ihn schmerzt, von seinen Erinnerungen berichtet. Dass das Geschehene sortiert und aufgearbeitet wird. Denn jedes einzelne Handeln dieser Zeit ist wichtig und nicht weniger relevant, nur weil die Zeit vergeht.

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ist Autorin und Dokumentar-filmerin. Sie hat über Machtverhältnisse in einer forensischen Psychiatrie promoviert. Als Autorin beschäftigt sie sich vor allem damit, Unbemerktes mit Worten sichtbar zu machen.

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