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Protestfreie Zonen?

Immer wenn Rechtsradikale öffentlich auftreten, empört sich die Öffentlichkeit: Dürfen die das? Über die Versammlungsfreiheit

von HORST MEIER

Wenn jene, die sich „Nationaldemokraten“ nennen, Fahnen schwenkend durchs Brandenburger Tor ziehen und gut gelaunt drohen „Wir sind wieder da!“, dann gehen Bilder um die Welt, die von dem abgestandenen Ressentiment leben, in Deutschland sammelten sich neubraune Bataillone zu einer zweiten Machtergreifung. Das beunruhigt nicht nur Außenpolitiker, die um das Ansehen der Bundesrepublik bangen. Auch Innenpolitiker geraten aus der Fassung.

Ist es rechtens, dass deutsche Polizisten viele Überstunden machen, um widerliche Hetzkundgebungen zu schützen? Ein merkwürdiges Bild ist es, wenn in Hamburg an die zweitausend Polizisten den Neonazi Christian Worch und achtzig seiner „Kameraden“ vor Gegendemonstranten abschirmen müssen – nur weil der Politkader beim höchsten deutschen Gericht den Versammlungstitel erstritten hat, „gegen Springerpresse“ und „für Meinungsfreiheit“ demonstrieren zu dürfen.

Öffentliche Ärgernisse dieser Art sind steigerungsfähig. NPD-Anhänger bewiesen es im Dezember 2001, als sie in Berlin gegen die Wehrmachtsausstellung demonstrierten. Dass sie durch das historische Scheunenviertel, einst Zentrum jüdischen Lebens, marschierten, vereitelte die Polizei mit einer Umleitung. Gar nicht auszudenken, was ins Haus steht, wenn erst einmal die Berliner Gedenkstätte für die ermordeten Juden Europas eingeweiht ist. Mit dem Baufortschritt wächst die Angst, Rechtsradikale und Auschwitzleugner könnten ausgerechnet dort, wo aller Welt das geläuterte Deutschland gezeigt werden soll, das Andenken der Ermordeten verunglimpfen. Manche Rechts- und Innenpolitiker liebäugeln daher mit einer Radikalkur: Wäre es nicht angebracht, gewisse Orte zu „demonstrationsfreien Zonen“ zu erklären?

Fragt sich nur, ob es so etwas wie protestfreie Zonen in einer Demokratie überhaupt geben darf. In Artikel 8 des Grundgesetzes heißt es: „Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.“ Aus der Europäischen Menschenrechtskonvention ergibt sich obendrein, dass auch Ausländer demonstrieren dürfen. Ihre politische Betätigung unterliegt indes verschiedenen Einschränkungen. Doch das nur am Rande.

Bis in die Siebzigerjahre hinein haftete Straßenprotesten, die mit den Ritualen wohl geordneter Gewerkschaftsaufmärsche zum 1. Mai oder staatlich inszenierter Kundgebungen zum 17. Juni brachen, etwas von Ruhestörung an. Es dauerte erstaunlich lange, bis die härter werdenden Auseinandersetzungen um das Demonstrationsrecht das Bundesverfassungsgericht erreichten. Die Stunde der Versammlungsfreiheit schlug, als das Gericht über mehrere Verfassungsbeschwerden zu entscheiden hatte, die sich gegen ein präventives Verbot richteten, mit dem im Februar 1981 jedwede Demonstration gegen das geplante Atomkraftwerk Brokdorf untersagt worden war. Und zwar für drei Tage in einem 210 Quadratkilometer umfassenden Gebiet der Wilstermarsch. Begründung: Vermutlich werde eine Minderheit militanter Demonstranten versuchen, den Bauplatz zu besetzen; das Versammlungsrecht müsse hinter dem Schutz von Sicherheit und Ordnung zurücktreten.

Am 14. Mai 1985 entschied der Erste Senat des Verfassungsgerichts, das pauschale Demonstrationsverbot verletze das Grundrecht aus Artikel 8.1. Die Begründung: Versammlungsverbote dürfen erst dann ergehen, wenn für gleichrangige Rechtsgüter eine unmittelbare Gefahr droht, die konkret zu belegen ist. Polizeibehörden müssen außerdem „versammlungsfreundlich“ verfahren, indem sie etwa mit den Veranstaltern deeskalierend kooperieren. Friedliche Teilnehmer einer großen Demonstration stehen auch dann unter dem Schutz des Grundrechts, wenn mit Ausschreitungen durch eine Minderheit zu rechnen ist. Und ins Grundsätzliche gehend erklärten die Verfassungsrichter: „Das Recht, sich ungehindert mit anderen zu versammeln, galt seit jeher als Zeichen der Freiheit [und] der Unabhängigkeit … des selbstbewussten Bürgers.“

Von Bürgerrechtsorganisationen ist der Brokdorfbeschluss gefeiert worden als ein Meilenstein der Rechtsprechung. Seit 1985 muss jede Polizeibehörde, die ein Versammlungsverbot erwägt, sich mit den Vorgaben aus Karlsruhe auseinandersetzen. Was damals als ein Sieg der Alternativbewegung wahrgenommen wurde, ist freilich inhaltsneutral, das heißt als Bürgerrecht für alle formuliert worden. Da keimt heute bei manch einem der Verdacht auf, ein so großherzig gefasstes Grundrecht werde von den „falschen“ Leuten strapaziert. So kommt es, dass sich fortschrittliche Polizeibehörden allerhand einfallen lassen, um Demonstrationen Rechtsradikaler verbieten zu können.

Stadtverwaltungen, die unter politischen Druck geraten, neigen dazu, den öffentlichen Erwartungen mit polizeirechtlichen Tricks entgegenzukommen: Das heißt, sie sprechen im Zweifel ein Verbot aus und delegieren im Übrigen die Verantwortung an die Verwaltungsgerichte, denen dann die undankbare Aufgabe zufällt, „für die Nazis“ Partei zu ergreifen. Welch ein törichter Vorwurf! Jeder, der seinen Protest auf die Straße tragen will, wird eine rechtsstaatliche Wohltat darin erblicken, dass eine Versammlung mit dem Hinweis auf militante Gegendemonstrationen nicht einfach verboten werden darf: Denn sie ist gegen Ausschreitungen politischer Gegner von der Polizei nach Kräften zu schützen.

Aber gilt das Recht, sich „friedlich und ohne Waffen“ zu versammeln, wirklich ganz uneingeschränkt auch für Rechtsradikale? Ja. Genauso wie für Stalinisten, Kriegstreiber, Vegetarier oder Anarchisten. Nun wird zwar verschiedentlich behauptet, Rechtsradikale unterlägen einem Sonderrecht. Das trifft aber nicht zu. Artikel 139 lautet: „Die zur ‚Befreiung des deutschen Volkes vom Nationalsozialismus und Militarismus‘ erlassenen Rechtsvorschriften werden von den Bestimmungen dieses Grundgesetzes nicht berührt.“

Die Formulierung des Jahres 1949 klingt vielversprechend. Die damit gemeinten westdeutschen Entnazifizierungsvorschriften betrafen aber nur die Säuberung des öffentlichen Dienstes. Sie wurden ebenso wie die in Betracht kommenden alliierten Organisationsverbote längst aufgehoben: Seit 1958 unterliegt die politische Betätigung von Rechtsradikalen keinem Sonderrecht mehr. Daher sind alle Versuche abwegig, aus der Übergangsvorschrift des Artikel 139 antifaschistischen Mehrwert zu schöpfen.

Es gibt indes weitere Holzwege. Das Oberverwaltungsgericht Münster strapazierte kürzlich die schwammige polizeirechtliche Generalklausel der „öffentlichen Ordnung“ und rechtfertigte damit Demonstrationsverbote gegen Neonazis und die NPD. Die Richter sahen jene „ungeschriebenen Regeln“ verletzt, die für ein geordnetes Zusammenleben „unerlässlich“ sind. Aus der offenkundig richtigen Annahme, dass das „Gedankengut“ von Neonazis mit dem Grundgesetz inhaltlich unvereinbar ist, zogen sie den falschen Schluss, das flächendeckende Verbot, entsprechende Meinungen kundzutun, sei der Verfassung irgendwie „immanent“.

Zum Glück sehen das die Hüter dieser Verfassung anders: Das Grundgesetz kenne keine ungeschriebene antinazistische Schranke der Freiheitsrechte, erklärten sie. Eine neonazistische Meinungsäußerung könne das Verbot einer Versammlung auf keinen Fall rechtfertigen. Und mit Blick auf die NPD führten die Karlsruher Richter aus, niemand dürfe die Verfassungswidrigkeit einer Partei geltend machen, bevor darüber nicht das laut Artikel 21 allein zuständige Verfassungsgericht entschieden hat.

Vor diesem Hintergrund sind alle Versuche, „demonstrationsfreie Zonen“ zu statuieren, Unfug. Erst vor wenigen Jahren wurde das „Bannmeilengesetz“, das Bundestagsabgeordnete vor dem Druck der Straße schützen soll, liberalisiert. Will man jetzt die „Bannmeilen“ aus Angst vor Sektierern bedenkenlos erweitern? Der Prozess der politischen Meinungsbildung muss staatsfrei sein. Belegt der Staat aber bestimmte Orte des öffentlichen Raums aus Gründen der Vergangenheitspolitik mit Tabu und Bann, verletzt er das Gebot der Neutralität. Eine nationale Gedenkstätte wie das geplante Holocaustmahnmal kann nicht inhaltlich neutral „als solche“ vor der Kundgabe bestimmter Meinungen abgeriegelt werden. Man mag Leuten einen Platzverweis erteilen, die durch körperliche Gewalt oder Sitzblockaden das Gedenken anderer massiv behindern, ohrenbetäubenden Lärm veranstalten oder volksverhetzende Flugblätter verteilen.

Wer glaubt, die Polizei sei wenigstens hierzulande berufen, schamlose Hetze im Keim zu ersticken, muss sich fragen lassen: Soll ein vormundschaftlicher Staat unseren Rechtsradikalen ausgerechnet diese Erfahrung ersparen – als verlorenes Häuflein Kundgebungen abzuhalten, die im Pfeifkonzert der Gegendemonstranten untergehen? Keine polizeilich abgeschirmte Vergangenheitsbewältigung darf solche Lernprozesse durchkreuzen.

Die Gefahr, dass Demonstrationen „demagogisch missbraucht und emotionalisiert werden können“, erklärte das Verfassungsgericht 1985, „kann im Bereich der Versammlungsfreiheit ebenso wenig maßgebend sein wie auf dem Gebiet der Meinungs- und Pressefreiheit“. Die Freiheit, aus beliebigem Anlass zu beliebiger Zeit an beliebigem Ort öffentlich in Erscheinung zu treten, ist ein Abwehrrecht gegen Staatseingriffe, „das auch und vor allem andersdenkenden Minderheiten zugute kommt“.

Auch wenn es schwerfällt: Rechtsradikale sind solch eine „andersdenkende Minderheit“. Trotzdem erscheinen rechtsradikale Aufmärsche vielen unerträglich. Aber ein Grundrecht, das niemanden provoziert, ist nicht der Rede wert.

Gerade dies, die Provokation durch kollektive physische Präsenz, durch spektakuläre Meinungskundgaben steht unter dem Schutz der Verfassung. Demonstrationen sind ein Moment der produktiven Unruhe, der öffentlichen Kritik und Kontrolle. Sie enthalten, heißt es im Brokdorfbeschluss, „ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren“. Das kann man sich merken. Der nächste anachronistische Zug kommt bestimmt.

HORST MEIER, 48, Jurist und Autor, lebt in Hamburg. Die Langfassung seines Textes erschien im Merkur (Nummer 639). Er ist Mitherausgeber des Buches (Suhrkamp, Frankfurt am Main 2002) „Verbot der NPD oder Mit Rechtsradikalen leben?“ (192 Seiten, 10 Euro)

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