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Proteste und Polizeigewalt in KolumbienMit Kochtöpfen statt Schutzhelmen

Am Nationalfeiertag sind in Kolumbien Tausende gegen die Regierung auf die Straßen gegangen. Sie forderten auch eine Reform des Polizeiapparats.

Protest am Tag der kolumbianischen Unabhängigkeit in Bogota Foto: Daniel Garzon Herazo/imago

Bogota taz | Im ganzen Land haben am Dienstag Tausende Menschen protestiert, die meisten von ihnen friedlich, begleitet durch kulturelle Aktivitäten und Konzerte. Sie forderten unter anderem bessere Arbeitsbedingungen, eine Reform des Rentensystems, einen besseren Schutz von Men­schen­rechts­ak­ti­vis­t*in­nen und die Umsetzung des Friedensabkommens mit der ehemaligen Farc-Guerilla. Laut Be­ob­ach­te­r*in­nen gingen aber weniger Menschen auf die Straßen als auf dem Höhepunkt der Proteste im Mai.

Der 20. Juli ist der Unabhängigkeitstag Kolumbiens. Aus Protest gegen die Menschenrechtsverletzungen der Regierung hingen dieses Mal viele Flaggen verkehrt herum – und das Blutrot oben. So tat das auch eine Gruppe von Par­la­men­ta­rie­r*in­nen der Opposition im Kongress. Sie trugen dabei Helme.

Die Polizei, speziell die berüchtigte Anti-Aufstandseinheit Esmad, ging auf Demonstrierende erneut mit Tränengas und Granatenwerfern los. Laut Medienberichten und Videos in den sozialen Medien geschah dies auch in Fällen, in denen die Demonstrierenden eindeutig friedlich gewesen waren. Laut der Studierenden-Organisation Univalle Unida schoss die Polizei scharf. Auch die Armee war mit Tausenden Sol­da­t*in­nen auf den Straßen. Mit Einbruch der Dunkelheit verstärkten sich die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Polizei, Demonstrierenden und Randalierern.

Mindestens 22 Personen wurden nach Angaben des Generaldirektors der kolumbianischen Polizei, Jorge Luis Vargas, wegen des Angriffs auf öffentliches Eigentum und Auseinandersetzungen mit der Polizei festgenommen. Knapp zwei Dutzend Polizisten wurden verletzt. Verlässliche Zahlen zu Verletzten und möglichen Toten lagen Dienstagnacht noch nicht vor.

Wie Drogenkriminelle präsentiert

Be­ob­ach­te­r*in­nen der Vereinten Nationen begleiteten in mehreren Städten die Protestmärsche. Nach Angaben des Instituts Indepaz sind bei den Protesten seit Ende April mindestens 79 Menschen getötet worden, davon 43 von der Polizei. Präsident Iván Duque lehnt eine tiefgreifende Polizeireform, eine der Hauptforderungen der Protestierenden, weiter ab. Seine Modernisierungsvorschläge gehen ihnen nicht weit genug.

Schon vor dem 20. Juli hatte Verteidigungsminister Diego Molano auf Twitter Dutzende Festnahmen gemeldet. Fotos zeigten die Menschen und deren beschlagnahmte Gegenstände in einer Art, wie es sonst bei Drogenkriminellen üblich ist. Die Gouverneurin der Region Valle, Clara Luz Roldán, hatte per Dekret die Grenzen der Verwaltungseinheit abgeriegelt.

Die sich dort befindende Stadt Cali ist seit April das Zentrum der Proteste. Die Polizei hatte vorab angekündigt, Schilder, Helme, Schutzbrillen und Gasmasken von Demonstrierenden zu konfiszieren. So wurde eine Seniorin am Dienstag zur Internetberühmtheit: Sie hatte einen Kochtopf zum Helm umfunktioniert.

Steuerreform bleibt umstritten

Während Tausende auf den Straßen protestierten, wurde im Parlament die Steuerreform vorgestellt, die bei Präsident Duque unter „Sozialinvestitionsgesetz“ firmiert. Der vorherige Vorschlag hatte die Proteste am 28. April ausgelöst, war später zurückgezogen worden und Finanzminister Alberto Carrasquilla zurückgetreten. Obwohl bis Mittwoch Details unbekannt waren, hatte es schon zuvor Kritik an dem neuen Vorstoß gegeben, weil dieser Unternehmen stark belasten würde, die durch die Pandemie ohnehin gebeutelt sind.

Zum anderen legte die Sitzung offen, wie zerstritten die Opposition ist. Weil sie sich nicht auf ei­ne*n Red­ne­r*in einigen konnte, wurden die 20 Minuten Replikrecht nach der Rede des Präsidenten Duque zwischen drei Parteien zerstückelt. Bei der Wahl des zweiten Vizepräsidenten des Senats, eigentlich eine Formalie, fiel Gustavo Bolívar durch, weil die Mehrheit den Stimmzettel leer ließ. Das war so noch nie vorgekommen.

Bolívar war vor dem Unabhängigkeitstag kritisiert worden, weil er eine Spendenaktion für Schutzkleidung an Menschen in der vordersten Protestreihe unterstützt hatte, damit diese ihre Augen und ihr Leben bewahrten, wie er sagte.

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1 Kommentar

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  • Wie sich die Bilder gleichen! Auch aus z. B. Venezuela, Nikaragua und neuerdings Kuba kommen ähnliche Bilder. Doch während Venezuela, Nikaragua, Kuba von linksgerichteten Präsidenten regiert werden, ist Kolumbiens Präsident eher rechtskonservativ. Heißt also, die politische Ausrichtung der Regierung bietet keine Gewähr für Wohlstand und Ruhe im Lande.



    Mal sehen, wann das auch Pedro Castillo, der neu gewählte Präsident Perus zu spüren bekommt!