Proteste nach Verhaftung İmamoğlus: Die Wut der türkischen Jugend
Es sind vor allem junge Leute, die gegen Erdoğan auf die Straße gehen. Mit vereinten Kräften und der Jugend voran, kann die Türkei gewinnen.

D ie Luft brennt. Wieder einmal. Und wieder sind es die „Gençler“, die Jungen, die den Ton angeben. Protestbewegungen in der Türkei sind zyklisch. Die von der Verhaftung İmamoğlus ausgelösten Demonstrationen wecken Erinnerungen an die Gezi-Proteste. Erstmals seit Republikgründung taten sich damals Oppositionelle aus allen Lagern zusammen. So wie heute dominierten die Jungen das Geschehen.
Während jedoch Gezi mit seinen vielen kreativen Protestformen gerade am Anfang einen Festival-Charakter hatte, ist der Ton gut zehn Jahre später rauer im Land. Die Jungen sind wütend – endlich! Symbolisch für diese Wut steht ein Video, das im Netz zu sehen ist. Vor laufender Kamera des oppositionellen TV-Senders Halk TV will sich Sunay Akın, ein prominenter Schriftsteller, bei einer Begegnung zwischen Demonstrierenden und Polizisten an die Seite der Studierenden stellen und das Wort ergreifen, da springt eine junge Frau zwischen ihn und die Kamera.
Die Studierenden lassen sich ihren Protest nicht länger von Etablierten kapern, stellt sie vehement klar. Gemeint sind Abgeordnete. Das trifft einen wunden Punkt. Auch wenn Akın kein CHP-Politiker ist, so hat die Situation symbolischen Charakter. Man kann der CHP zum Vorwurf machen, dass sie über Jahrzehnte die Minderheiten im Land politisch vernachlässigt hat.
Die säkulare Partei hat seit der Staatsgründung den religiösen Teil der Bevölkerung diskreditiert und sich außerdem mit den Unterdrückern von Minderheiten gemein gemacht, allen voran der kurdischen, die rund ein Viertel der Bevölkerung in der Türkei ausmacht. Die Verhaftung des wichtigsten Oppositionspolitikers, kurz nachdem PKK-Gründungsmitglied Abdullah Öcalan zur Niederlegung der Waffen aufgerufen hat, passt zu Erdoğans letztem Move.
Eine Chance für die CHP
Während ein Gericht die Untersuchungshaft von İmamoğlu vorbereitet, was jahrelange Haft seines größten Rivalen bedeuten könnte, gratuliert Erdoğan zum kurdischen Frühjahrsfest Newroz und spricht von einem Tag der Brüderlichkeit. Natürlich winkt er dem sunnitischen Teil der Bevölkerung. Und natürlich gehört das zu seiner Strategie, mögliche Allianzen zu spalten.
Man muss sich stark auf die Zunge beißen, bei allem, was sich gerade politisch in der Türkei wiederholt. Und bei aller Kritik, die man an der CHP für ihre vergangene Politik haben muss – dieser Moment könnte ihre Chance sein, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Wenn sie ihre knöcherne Parteistruktur öffnet, es schafft, die Jungen zu Wort kommen zu lassen und sich ernsthaft für die Interessen von Minoritäten einsetzt – dann könnte die Türkei tatsächlich gewinnen.
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