Proteste in Tschechien: Her mit dem Kopf von Andrej Babiš!
Über 100.000 TschechInnen fordern den Rücktritt des Regierungschefs. Der Oligarch, der sich an EU-Mitteln bereicherte, unterminiere die Demokratie.
So viele Menschen, wie an diesem Dienstag hatte der bronzene Wenzel zuletzt im November 1989 gesehen: Bis hinunter zum Palác Koruna, dem 682 Meter entfernten Jugendstil-Prachtbau am unteren Ende des Platzes, drängelten sich 120.000 Demonstranten. Sie verlangen nicht weniger als den Kopf von Regierungschef Andrej Babiš.
Der 63-jährige Oligarch, fürchten sie, höhle die Demokratie in Tschechien aus, um einem Gerichtsverfahren und möglichen Urteil im Zusammenhang mit seiner Luxusresidenz Storchennest zu entgehen. Als vor Kurzem die Polizei nach Ermittlungsabschluss der Staatsanwaltschaft empfohlen hatte, eine Betrugsklage gegen Babiš und seine Familie einzuleiten, trat der von Babišs ANO-Bewegung nominierte Justizminister Jan Knezínek zurück und machte Marie Benešová, ein sozialdemokratisches Urgestein aus dem Biotop um Präsident Miloš Zeman Platz. Die plötzliche Kür der ausgedienten Benešová, war Mitte April die Geburtsstunde der Proteste. Die werden seitdem immer größer.
Der Grund ist nicht nur, dass das Wetter seit der ersten Demo im April so viel besser geworden ist. In dieser Woche wurde auch der Bericht der Europäischen Kommission öffentlich. Der scheint den Betrugsverdacht gegen Andrej Babiš eher zu erhärten und legt weitere merkwürdige Praktiken der Agrofert Holding von Andrej Babiš dar.
Unter Betrugsverdacht
Die Agrofert musste Babiš laut einem eigens für ihn gemachten Gesetz einer Treuhand unterstellen. Zu der gehört aber auch seine Ehefrau Monika, die in Sachen Storchennest auch unter Betrugsverdacht steht.
Seine beiden ebenfalls verdächtigen erwachsenen Kinder erklärte Babiš in der Öffentlichkeit für psychisch krank. Seinem angeblich hochgradig schizophrenen Sohn spendierte Babiš zu Beginn der polizeilichen Ermittlungen einen Urlaub auf der besetzten Krim, den der Sohn selbst später als Entführung bezeichnete.
Erst vor zwei Wochen erklärte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg, Babiš werde zurecht als Agent der tschechoslowakischen Staatssicherheit geführt. Kaum eine Woche vergeht ohne Aufruhr um Andrej Babiš. Und immer mehr Menschen kommen auf die Idee, dem Heiligen Wenzel einen Besuch abzustatten.
„Wir haben die Nase voll! Rücktritt“, fordern die Organisatoren der Proteste, Teil der Initiative „Eine Million Momente für Demokratie“. Hinter der steht Mikuláš Minař, ein 26-jähriger Aktivist aus Südböhmen, der in Prag Philosophie und evangelische Theologie studiert. Er hätte nie geglaubt, dass ein Appell an den Ministerpräsidenten, die Demokratie in Tschechien zu wahren, in eineinhalb Jahren zu Massenprotesten werden würde, staunt er.
Johlen, pfeifen, schreien
Auf der Demo redet er Tacheles: „Wir werden nicht so tun, dass es normal ist, dass der Premier unseres Landes ein Mensch in solch einem Interessenkonflikt ist, dass seine privaten Probleme das ganze Land beschädigen“, erklärt Minar am Dienstag.
Symbolträchtig wacht der Heilige Wenzel in Bronze über der Bühne, auf der Minař steht. „Wir fordern den Rücktritt von Andrej Babiš“ ruft er. 120.000 Menschen johlen, pfeifen und schreien. Manche klappern mit ihren Schlüsseln. Wie vor 1989. Bei der Samtrevolution.
Die ging vom Wenzelsplatz aus auf der Letná-Anhöhe weiter. Das ist der „Sommerhügel“, der sich gegenüber der Altstadt über der Moldau erhebt. Hier soll am 23. Juni die nächste Demonstration gegen Babiš stattfinden. Der Heilige Wenzel kann sich zurücklehnen. Scheinbar gibt es genug Tschechen, die ihm seine Arbeit als Schutzpatron abnehmen möchten.
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