Proteste in Brasilien: Aufstand der Vernetzten

In Brasilien gehen Hunderttausende meist junge Leute auf die Straße. Ihren Protest organisieren sie vor allem auf Facebook oder via „WhatsApp“.

Anfangs ging es um Fahrpreiserhöhungen. Jetzt geht es um soziale Gerechtigkeit, mehr Arbeit, Gesundheit und Bildung, kurz: ein besseres Brasilien. Bild: ap

SÃO PAULO taz | Die „WhatsApp“-Gruppe hat alles verändert. Pedro Anjos França und seine Freunde haben sie einen Tag vor der ersten großen Demo angelegt. Sie alle sind Anfang 20 und kennen sich schon lange. Sie sind Tür an Tür aufgewachsen im Stadtteil Lapa im Nordwesten von São Paulo, der größten Stadt Brasiliens, in deren Großraum über 20 Millionen Menschen leben. Abends sind sie zusammen ausgegangen, doch über Politik haben sie so gut wie nie gesprochen. Bis jetzt.

Seit Sonntag vor einer Woche diskutieren die 17 Freunde nun im Chat von Smartphone zu Smartphone, manchmal laufen 500 Nachrichten am Tag ein. Sie schicken sich Links zu Artikeln, und sie verabreden sich zu Demonstrationen.

Und so passiert es im ganzen Land. Hunderttausende gehen auf die Straße, vor allem junge Leute zwischen 20 und 30. Es ist ein Aufstand der Vernetzten. Organisiert wird er online, vor allem auf Facebook, wobei organisieren fast ein zu großes Wort ist, wenn es darum geht, eine Veranstaltungs- oder eine Fanseite anzulegen. Im Web klicken die jungen Leute „Gefällt mir“. Auf der Straße rufen sie dann vor allem, was ihnen alles nicht gefällt.

Gegen Korruption. Gegen die Regierung. Gegen Politiker im Allgemeinen. Gegen die Fifa. Für mehr Bildung, Gesundheit und Arbeit. Für eine kostenlose U-Bahn. Für die Rechte von Homosexuellen. Für die Liebe.

Kinder der Mittelschicht

Ohne die sozialen Netzwerke im Internet, da ist sich Pedro sicher, würde in Brasilien keiner auf die Straße gehen. Entscheidend ist dabei, dass online mit offline verschmilzt. Wie bei ihm und seinen Freunden. Sie haben ein Leintuch bemalt, darauf steht: „Für ein besseres Brasilien“. Das tragen sie nun vor sich her.

Sie sind Kinder der Mittelschicht, wie die meisten Demonstranten. Pedros Mutter hat ein kleines Reisebüro, er selbst arbeitet als Softwareentwickler und schließt gerade sein Studium ab. 24 Jahre ist er alt. Er verdient nicht viel, aber genug, 2.000 Reais im Monat – knapp 700 Euro.

Samstag: Die Demo richtet sich gegen den geplanten Verfassungszusatz „PEC 37“. Eine komplizierte Materie, es geht um das Verhältnis von Polizei und Staatsanwaltschaft, wer wann ermitteln darf. Für die Demonstranten ist klar: Sollte das Gesetz durchkommen, besteht die große Gefahr, dass korrupte Politiker straffrei bleiben.

Einen Anführer haben die 30.000 Demonstranten nicht. Sie laufen erst gemeinsam die Avenida Paulista entlang, den großen Boulevard der Stadt. Dann teilt sich die Menge in mehrere Gruppen auf, jeweils mehrere tausend Menschen.

Keiner hat einen Plan, aber er funktioniert. Pedro läuft vor dem Banner, das seine Freunde tragen. Er schaut immer wieder auf sein Handy. Bespricht sich mit zwei anderen. Sie entscheiden sich spontan, auf eine große achtspurige Straße zu laufen. Die Autos müssen anhalten. Die Fahrer hupen – vor Freude. Manche strecken ihre Faust aus dem Seitenfenster, einer steigt aus und klatscht selig, bis alle vorbeigelaufen sind. Die Demonstranten halten an und schwenken die Nationalflagge. Sie rufen „Vem pra rua“ – „Komm auf die Straße!“

Auch Daniel Avelar Guimarães ist in den vergangenen Wochen oft auf Demos gegangen, auf diese aber nicht. Auf Facebook hat er einen Eintrag geteilt, in dem erklärt wird, dass man sich ausführlich mit dem Gesetzesvorhaben beschäftigen sollte, ehe man ein Urteil fällt. Er mag keine vorschnellen Schlüsse.

Er mag auch keine Nationalflaggen. „Weil der Patriotismus ganz schnell nach rechts umschlagen kann.“ Und er findet, dass Parteien das Recht haben müssen, mit zu demonstrieren. Deshalb ist er vor einer Woche ganz bewusst neben ihnen gelaufen, auch wenn er nirgendwo Mitglied ist. Denn viele wollen die Parteien nicht dabei haben. „Die Typen haben uns mit Messern angegriffen“, gewaltbereite Demonstranten, die sich „Parteilose“ nennen. Manche glauben, dass sie von rechten Gruppen gesteuert werden. Daniel Avelar Guimarães rannte weg. „Ich hatte wirklich Angst.“

Das war schon das zweite Mal, dass es brenzlig wurde. Auch am 13. Juni war er auf der Demo. Er war etwa 30 Meter von der Polizei entfernt, als die anfing, mit Knüppeln und Gummigeschossen auf die Leute loszugehen. Er hatte kein Essig dabei, andere gaben ihm welchen. Essig neutralisiert Tränengas. „Damit ging es.“

Am Eingang seiner Uni hat jemand ein Schild aufgehängt: „V de Vinagre“ – „E wie Essig“. Ein Symbol des Protests.

Daniel ist ein junger Mann mit Wuschelkopf und Zahnspange, er studiert Internationale Beziehungen im zweiten Jahr. Er ist gerade 18 Jahre alt, schon als Zehnjähriger reiste er allein auf ein internationales Jugendcamp in Norwegen. Sein Vater ist Universitätsdozent, die Mutter Yogalehrerin. Er ist privilegiert. Aber er findet, dass das so nicht bleiben darf. Aus einem Stück Stoff hat er sich ein Transparent gebastelt, darauf: eine große rote Faust.

Kein einheitliches Ziel

Aber Daniel will nicht nur demonstrieren, er will wissen, warum er gegen was demonstrieren soll. Deshalb geht er zu einem Treffen des Movimento Passe Livre. Seit acht Jahren kämpft die Organisation (284.000 Facebookfans) für kostenlosen Nahverkehr. Kaum einer bekam das mit. Zuletzt gingen sie gegen die Fahrpreiserhöhung von 20 Centavos auf die Straße. Und auf ihrer Demo eskalierte dann am 13. Juni der Polizeieinsatz. Das erst rief den Massenprotest hervor.

Und machte die Gruppe zum zentralen Ansprechpartner für die Politik. Als die jüngste Preiserhöhung rückgängig gemacht wurde, war klar: Es gibt kein einheitliches Ziel mehr. Nur viele junge Brasilianer, denen es selber nicht so schlecht geht, bei denen sich aber ein gewisser Frust angestaut hat. Weil das Leben immer teurer wird, weil der Reichtum ungleich verteilt ist, weil für die Fußball-WM wahnsinnig viel Geld ausgegeben wird, während es woanders fehlt. Hinzu kommen Korruption und die Polizeigewalt, die bei vielen den Ausschlag gab, aktiv zu werden.

Der Andrang ist groß beim MPL-Treffen am Sonntag. Sie haben extra zu drei Orten in der Stadt gleichzeitig eingeladen. Trotzdem passen nicht alle in den schlichten Versammlungsraum. 100 junge Leute sitzen eng gedrängt, Männer im Kapuzenpullover, Frauen im Rock über den Leggings.

Die Aktivisten scheinen überfordert zu sein mit der Aufmerksamkeit, die sie nun bekommen. Wenn sie überhaupt noch Interviews geben, geben sie im Prinzip nur das wieder, was sie schon auf ihrer Facebookseite gepostet haben. Beim Treffen dürfen Journalisten gar nicht dabei sein, sagt einer der Aktivisten. Kein Problem, sagt eine andere, so lange sie nicht filmen oder Fotos machen. Die Journalisten müssen jetzt den Saal verlassen, sagt dann der erste wieder. Eine Viertelstunde wird diskutiert.

Eine Demo am Dienstag, 12.152 klicken auf „teilnehmen“

Ist das die Demokratie, die wir wollen?, fragt eine Zuhörerin. Die Journalisten dürfen bleiben. Und hören viel Technisches über das Transportwesen als solches und wenig über Strategien des Kollektivs.

Daniel sagt, er fand die Diskussion mit den MPL-Leuten interessant. „Das ist doch das Schöne“, sagt er, „es wird jetzt über Politik diskutiert.“ Und nicht mehr nur über Fußball. Es sei aber so schwierig, den Überblick zu behalten, wer eigentlich wann was organisiert.

Für Dienstag etwa wurden in São Paulo gleich mehrere Demonstrationen für dieselbe Zeit angekündigt. Bei der, die auf der Praça do Ciclista beginnen soll, hat Pedro auf „teilnehmen“ geklickt, wie 12.151 andere. 17 Uhr, zwei Übertragungswagen haben ihre Satellitenschüsseln nach oben gefahren, eine Reporterin wartet im Scheinwerferlicht, zwei weitere Journalisten sind da – und genau ein Demonstrant.

Später kommen doch noch ein paar, um die 35 Leute laufen die Straße entlang. Vielleicht liegt es am Regen, vielleicht an zwischenzeitlicher Protestmüdigkeit, vielleicht ist es auch ein politischer Erfolg der Staatspräsidentin, die Referenden zu den drängendsten Themen und mehr Geld versprochen hat.

Auch wenn es Pedro selbst dieses Mal nicht zur Demo geschafft hat, glaubt er trotzdem, dass die Bewegung lange weiter besteht. „Die Menschen sind aufgewacht“, sagt er. „Wir haben jetzt die Macht.“ Und schon einen Erfolg: Der Verfassungszusatz 37 ist erstmal vom Tisch. Das Parlament hat sich am Dienstag dem Druck der vernetzten Straße gebeugt.

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