Proteste in Belarus: Geschlagen und gefoltert
Über tausend Inhaftierte werden freigelassen, der Innenminister entschuldigt sich. Dennoch wird weiter demonstriert und gestreikt.
Seit Sonntagabend halten die Proteste gegen die massiven Fälschungen bei der Präsidentschaftswahl an, bei denen Staatschef Alexander Lukaschenko angeblich 80 Prozent der Stimmen erhalten haben und seine Herausforderin Swetlana Tichanowska auf nur 10 Prozent gekommen sein soll.
In der Folge wurden über 6.000 Demonstranten*innen und zufällige Passant*innen festgenommen, über 250 Teilnehmer*innen von Aktionen mussten in Krankenhäusern behandelt werden. Zwei Personen wurden getötet.
Inzwischen haben die Behörden die Todesursache von Alexander Wichor bekanntgegeben, der in der Haft in Gomel gestorben war. Wichor sei einer Überdosis Drogen erlegen, erklärten sie. Seine Angehörigen wollen diese Erklärung nicht glauben.
Keine Medikamente
Sie berichten, so die belarusische Nachrichtenagentur tut.by, dass Wichor nicht an den Aktionen teilgenommen und sich nur zufällig dort aufgehalten habe. Sie glauben, Wichor habe in der Haft keine Medikamente gegen seine Herzkrankheit erhalten und sei in der Folge von Misshandlungen gestorben.
Innenminister Jurij Karajew hat sich nun für die Festnahmen entschuldigt und erklärt, er übernehme die Verantwortung für Verletzungen, die Personen bei Protesten zugefügt worden seien. Ebenfalls am Freitag wurden über tausend Festgenommene freigelassen. Einige sagten, sie seien in Haft geschlagen und gefoltert worden.
In einem Telefonat mit der taz berichtet Irina Kravetz von der Menschenrechtsorganisation „Nasch Dom“ (Unser Haus) über ihre zwei Tage in der Minsker Haftanstalt in der Okrestina-Straße. So sei sie in einer 4-Personen-Zelle mit 35 anderen Frauen inhaftiert gewesen, ohne Essen und Trinken. Man habe nur stehen können. „Immer wieder haben wir in der Nachbarzelle die Schreie der Männer gehört, die dort verprügelt wurden. Auch von uns Frauen wurden einige geschlagen. Ungefähr jede achte Frau haben sie willkürlich heraus geholt und sie geschlagen. Und zwar so, dass hinterher keine Spuren zu sehen waren.“
Eine Mitgefangene habe Panikattacken erlitten, eine Diabetikerin musste ohne Medikamente auskommen, manchen seien immer wieder wegen des Sauerstoffmangels ohnmächtig geworden. „Irgendwann baten wir, man möge doch die Luke für die Essensausgabe aufmachen, damit wir Luft bekommen. Als Antwort schüttete uns ein Wächter einen Eimer Wasser in die Zelle.“
Zwei Minuten Haftprüfung
Gerade einmal zwei Minuten hätten sich die Richter Zeit für die Haftprüfungstermine genommen. Die Bitte von Kravetz, ihren Anwalt zu diesem Termin hinzuzuziehen, sei abgelehnt worden. Unter Coronabedingungen sei dies nicht möglich, zudem könne sie keinen Vertrag mit dem Anwalt vorlegen.
Noch in der Haft hatte sich Kravetz mit ihren Mithäftlingen geeinigt, sich in einer Viber-Gruppe zu organisieren und gemeinsam gegen die Misshandlungen in der Haft zu klagen und an die Öffentlichkeit zu gehen.
Unterdessen schließen sich immer mehr Betriebe den Streiks gegen Festnahmen, Polizeigewalt und für Neuwahlen an. Tausende streiken im Minsker Traktorenwerk. Das Werk ist mit 17.000 Arbeiter*innen eine der weltweit größten Fabriken für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge.
Auch das Fleischwerk Grodno, das Werk für Fenster und Türen „Terrasit“ in Grodno, das Minsker Automobilwerk, zahlreiche Eisenbahner*innen, U-Bahn-Angestellte und Pädagog*innen sind in den Ausstand getreten.
Dialog findet statt
Obwohl Präsident Alexander Lukaschenko einen Dialog mit den Protestierenden ablehnt, findet dieser statt. So will der Bürgermeister von Brest, Alexander Rogatschuk, Demonstrationen erlauben. Und Premierminister Raman Haloutschenka traf sich mit streikenden Arbeiter*innen des Minsker Traktorenwerkes.
Lukaschenko warnte auf einer Pressekonferenz vor Streiks. Freuen über diese Streiks würde sich vor allem die ausländische Konkurrenz. Gleichzeitig dementierte er Gerüchte, er wolle sich ins Ausland absetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
MLPD droht Nichtzulassung zur Wahl
Scheitert der „echte Sozialismus“ am Parteiengesetz?
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Förderung von E-Mobilität
Habeck plant Hilfspaket mit 1.000 Euro Ladestromguthaben