Protest in Brasilien: Fremdes Bier? Ich schäume!
Den Brasilianern wird von korrupten Familienclans vorgeschrieben, welches Bier sie trinken dürfen. Rechtfertigt das ihren Aufstand?
Ich war neulich in Belo Horizonte. Kennen Sie nicht? Macht nichts. Das ist das Essen Brasiliens – eine halbwegs große, potthässliche, mittelmäßig bedeutungslose Stadt, die von der Fußball-WM 2014 profitieren möchte. Meinen Flug dorthin bezahlte der Bürgermeister der Stadt, das schöne Hotelzimmer auch.
Er heißt Marcio Lacerda. Der Fifa-Sonderbeauftragte des Bundesstaates, der mich ebenfalls empfing, heißt Tiago Lacerda. Das ist der haaremäßig gut gegelte Sohn von Marcio. Er fiel sehr schnell sehr weit nach oben.
Zehntausende, teils Hunderttausende Brasilianer gehen seit einigen Tagen in ganz Brasilien auf die Straßen. Der Grund sind massenweise Lacerdas in brasilianischen Behörden und Regierungen. Der Grund ist der Nachmittagsverkehr um 17 Uhr. Und der Grund ist eine sehr rigide Bierpolitik. Ja, Bierpolitik.
Martin Kaul, Jahrgang 1981, ist taz-Redakteur für soziale Bewegungen und Politik von unten und twittert unter @martinkaul. Er ist Deutsch-Brasilianer. Sein Großvater war Braumeister in Brasilien.
Denn so sehr sich die meisten Brasilianer am Anblick präziser Pässe und authentischer Hackentricks ergötzen können – den Preis, den sie für ein paar Wochen Fußballfreude zahlen sollen, spüren sie schon längst. Die Bierfrage ist dabei eine, die viele Brasilianer zum Schäumen bringt.
Denn die Fifa befiehlt, dass zum Fußball in Stadien, auf Fanmeilen und bei lizenzierten Großveranstaltungen kein brasilianisches Bier serviert werden darf, sondern nur jenes der internationalen Sponsoren. Nun ist die stets eisgekühlte brasilianische Version von Bier wahrlich kein Kulturgut an sich – doch diejenigen, deren Steuergelder die gigantischen Bauprojekte ermöglichen, sehen in der Diktatur des Biergeschmacks eine neue Diktatur des Fußballs aufziehen, der nicht mehr ihr Fußball ist. Sie haben recht. Das Bier ist nur ein Beispiel.
Diktatur des Biergeschmacks
Faktisch hat die Fifa bereits die Regentschaft in vielen Städten übernommen: Ganze Stadtzentren und kilometergroße Bannmeilen rund um die Stadien wurden zu exklusiven Räumen des Weltfußballverbands erklärt. Kein Kommunalpolitiker, sondern die Fifa bestimmt, was gegessen und getrunken wird, welche Werbeschilder platziert, welche Veranstaltungen stattfinden dürfen – und welche Demonstrationen nicht. Brasilien, das Land, das die Weltsozialforen hervorbrachte und eine stolze Kultur undogmatischer und kollektivistischer Politik vorweisen kann – auf der Kippe?
Nachmittags, 17 Uhr, U-Bahn-Station, São Paulo, wahlweise Rio. Es gibt hier kein Entweichen mehr. Es gibt nur noch die Menschenmasse, kaum durchdringbar. Die Infrastruktur ist höllisch überlastet, bauen tut not. Und so werden gigantisch überdimensionierte Bauprojekte entworfen, von denen allerdings die meisten drei Merkmale haben: Sie sind schweineteuer, werden bis zur WM nicht fertig – aber hinterher nicht mehr gebraucht. Das ist der Resonanzraum eines neuen metropolen Aufstands, der – bei allen Eigenheiten – tatsächlich Bezugspunkte zu Istanbul aufweisen kann: Es geht um die Stadt, die es nicht gibt.
Ich war ja bei den Lacerdas, sie nahmen mich mit. Ich sah kiloweise Vitaminpräparate in den Spielerkabinen des Erstligaklubs Atlético Mineiro und das nagelneu renovierte Stadion Mineirão. Tiago Lacerda sagt: Diese modernen Stadien symbolisieren die Zukunftsfähigkeit Brasiliens. Als es zu regnen beginnt, fließen die Wassermassen durch die offenen Kabelschächte entlang der Starkstromleitungen direkt ins Stadioninnere.
Ich sage: Tiago Lacerda ist ein Speichellecker vor dem Herrn, der einen schönen Posten und einen mächtigen Papa hat. Sein Papa sagt: Tiago ist sehr begabt und genau der richtige Mann für den Fifa-Posten. Viele Brasilianer sagen, sehr zu Recht: Gebt uns unser Bier – und macht euch fort.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autounfälle
Das Tötungsprivileg
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen