Propaganda im Ukraine-Krieg: Seltsame Narrative der Geschichte
Russland und die Ukraine bekämpfen sich auch in den Medien. Dort wird behauptet, deutsche Waffen treffen am 22. Juni in der Ukraine ein.
„Botschafter Andrej Melnik hat angekündigt, dass am 22. Juni Panzerhaubitzen aus Deutschland in die Ukraine geschickt werden. Das hat Symbolkraft! Die auf der Hand liegenden Analogien sprechen für sich. Bundeskanzler Scholz zeigt seinen Nazismus frei von jeder Scham.“ Veröffentlicht wurde dieser Post vor wenigen Tagen, am 11. Juni im Telegram-Kanal „Verbotene Ukraine“.
Bis jetzt gibt es dazu 54 Kommentare. Ihre Aussagen reichen von „Wir treffen euch an der Grenze!“ bis „Am 9. Mai sind unsere Panzer wieder in Berlin!“. Über 33.000 Abonnenten hat der russische Kanal „Verbotene Ukraine“. Jeden Tag werden bis zu zehn „Nachrichten“ online gestellt. Der obige Post wird auch in anderen russischen Online-Medien zitiert.
Wo aber liegt die Quelle für die Behauptung, dass ausgerechnet am 22. Juni, dem Tag, an dem sich der Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion 1941 zum 81. Mal jährt, das erste aus Deutschland gelieferte schwere Kriegsgerät in der Ukraine ankommen wird? Andrej Melnik, der ukrainische Botschafter in Deutschland, gibt am 10. Juni dem ukrainischen Nachrichtenportal NV (Novoje Vremja, auf Deutsch: Neue Zeit) ein Interview.
Melnyks Kritik an der Bundesregierung
Darin kritisiert er ausführlich das Verhalten der Bundesregierung und insbesondere das von SPD-Kanzler Scholz in Bezug auf Waffenlieferungen in die Ukraine. Melnik erwähnt betont beiläufig in einem Nebensatz: „Sieben Panzerhaubitzen werden uns um den 22. Juni herum zur Verfügung stehen.“ Die Lunte ist gelegt.
Das Interview wird am nächsten Tag in der russischen Presse rauf und runter zitiert. Die angesehene Moskauer Tageszeitung Kommersant titelt: „Die ersten schweren Waffen bekommt die Ukraine am 22. Juni.“ Das Online-Portal Donbasstoday.ru spitzt zu und bringt mit „Am Tag des Überfalls auf die Sowjetunion liefert Deutschland Haubitzen an die Ukraine“ einen Leitartikel, der Aufmerksamkeit bei der Leserschaft verspricht.
In den deutschen Medien gibt es zu diesem konkreten Lieferdatum dagegen keine Hinweise – und so beziehen sich russische Medien ausschließlich auf die Aussage des ukrainischen Botschafters. Sie zitieren Melnik im Wortlaut, was den Fixpunkt „22. Juni“ wieder etwas relativiert. In einigen Beiträgen macht man sich sogar über Melnik lustig, sieht ihn am 22. Juni „um 4 Uhr früh“ – die Stunde, die den Beginn des Überfalls der Wehrmacht markiert – ohne Haubitzen dastehen und bucht die passgenaue symbolträchtige Waffenlieferung als seinen eigenen Wunschgedanken ab.
Irreführende Überschriften
Die eigentliche Setzung aber findet in den Überschriften statt und setzt den konstituierenden Rahmen für eine weitere Behauptung im Propaganda-Krieg. Botschafter Melnik war definitiv bewusst, was er mit diesem eingestreuten Datum auslösen würde: Ein Erdbeben auf russischer Seite. Neben dem 9. Mai, der als Tag des Sieges über Nazi-Deutschland in Russland jährlich reanimiert wird, wird auch an den 22. Juni als Tag der Katastrophe, als Beginn des großen Leids erinnert.
Im momentanen russischen Propaganda-Narrativ, das immer neue Kapriolen macht, verbünden sich im Kontext der Lieferung deutscher Waffen an diesem Schicksalsdatum deutsche mit ukrainischen Nazis und stellen sich gegen die russischen (Donbass-)„Befreier“. Somit ist die deutsche Bundesregierung jetzt im russisch-ukrainischen Krieg um Einflusssphären und Deutungshoheit prominent vertreten.
US-Präsident Joe Biden wiederum hat bewusst, so kann man es der Webseite seiner Regierung entnehmen, den 9. Mai gewählt, um ein „Lend & Lease“-Abkommen mit der Ukraine zu unterzeichnen. Es ist dies die Wiederauflage eines alten Abkommens aus dem Zweiten Weltkrieg, als die USA die Bündnispartner Großbritannien und die UdSSR im Kampf gegen Nazideutschland massiv mit Waffen unterstützt haben, mit der „Hängematte“: Die Kosten für geliefertes Material mussten erst nach 1945 zurückerstattet werden.
Geschichtsträchtiges Datum
In Moskau findet also am 9. Mai die alljährliche Siegesparade statt, und ein paar Stunden später unterzeichnet der Präsident der Vereinigten Staaten ein Abkommen. Das soll definitiv eine Brüskierung Putins sein. Da der 9. Mai in Russland neben dem offiziellen pompösen Gedenken auch in der privaten Erinnerung vieler Familien einen wichtigen Platz einnimmt, wird Bidens Akt auch von Russ:innen, die sich dezidiert gegen den Angriffskrieg Russlands aussprechen und meist schon im Exil sind, als inadäquat empfunden. Das ergaben mehrere Gespräche mit Exilruss:Innen.
Einen Monat danach erscheint die „Nachricht“ von den sieben deutschen Panzerhaubitzen 2000, die „exakt“ am 22. Juni geliefert werden sollen, im Netz. Überwiegend konsternierte Wahrnehmung in der Exilgemeinde, da auch der 22. Juni unabhängig vom staatlich vorgegebenen Geschichtsnarrativ in der generationenübergreifenden Familienerzählung ein Schlüsselmomentum ist.
Im Land selbst wiederum begreift man diesen einen Nebensatz in einem langen Interview als Steilvorlage für die eigene Propaganda und baut weiter am Paralleluniversum.
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