Pro und Contra zum EU-Austritt: Ist der Brexit gut für die Insel?
Yes? No? Stay? Go? Zwei britische Wissenschaftler streiten über den Austritt ihres Landes aus der Europäischen Union.
Yes!
W ir Unterstützer des Brexit haben uns an die Fragen unserer europäischen Freunde, was denn in uns gefahren ist, gewöhnt. „Seid ihr verrückt geworden?“ „Mögt ihr uns nicht mehr?“ „Wie könnt ihr bloß?“ – auf diese naiven, manchmal berührenden Fragen hole ich tief Luft und versuche, mich kurz zu fassen. Es hat nichts damit zu tun, Europa nicht zu mögen. Viele führende Brexiteers haben enge europäische Beziehungen. Ich selbst habe in meinem Berufsleben zumeist über Frankreich geschrieben und europäische Geschichte gelehrt. Ich kenne Paris besser als London, die Pyrenäen besser als die Highlands, Berlin besser als Liverpool.
Also wie erklärt man den Brexit? Eine verbreitete Ansicht ist, dass die Briten – insbesondere die Engländer – anders seien. Das gilt mal als Lob (demokratisch, unabhängig), mal als Anschuldigung (isolationistisch, selbstbezogen). Man sollte mit essenzialistischen Erklärungen vorsichtig sein. Ein Grund: Das Referendumsergebnis von 2016 führte zu einer knappen Mehrheit. Ein anderer: Die Haltung zur EU unterscheidet sich in Großbritannien nicht sehr von der in Frankreich, Deutschland oder Italien. Die grundlegende Erklärung für den Brexit ist einfach. Erstens: Wir durften darüber abstimmen. Zweitens: Wir waren nicht in der Eurozone, sonst hätten wir sicherlich aus Angst vor finanziellen Verwerfungen für die EU gestimmt.
Es wäre ein Fehler, den Brexit als extremistisch oder irrational anzusehen. Er ist schlicht rational. Viele Kontinentaleuropäer haben aus ihrer jüngeren Geschichte heraus eine emotionale Bindung an die Idee eines geeinten Europa – wir Briten, vom 20. Jahrhundert weniger traumatisiert, sehen es mehr als eine Wirtschaftsbeziehung. Wenn sie uns nichts mehr nützt, warum drinbleiben?
Unsere wirtschaftlichen Verflechtungen mit der Eurozone sind zwar wichtig, ihre Bedeutung nimmt aber ab. Wir betreiben weniger Handel mit der EU als jeder andere Mitgliedstaat, unsere Exporte in Nicht-EU-Länder hingegen wachsen dreizehnmal schneller als jene in Länder der Europäischen Union. Der regulierte, protektionistische Binnenmarkt ist für die britische Wirtschaft insgesamt gesehen nicht von Vorteil. Personenfreizügigkeit bedeutet Einkommensstagnation, schärferen Wettbewerb um Arbeitsplätze und Wohnraumverknappung. Ein einfaches Freihandelsabkommen mit Europa würde uns ermöglichen, störungsfreien Handel mit dynamischeren globalen Märkten auszuhandeln.
Aber dass wir 2016 für den Austritt stimmten, reichte Brüssel nicht. Dänen, Niederländer, Iren, Franzosen, Italiener und Griechen haben alle schon mal gegen die EU-Politik gestimmt, und alle wurden überredet oder gezwungen, ihre Meinung wieder zu ändern. Viele dachten, wir würden das auch tun, und taten ihr Bestes, damit das eintritt.
Für mich und viele andere wurde dies zum zentralen Punkt. Waren wir noch eine Demokratie und ein unabhängiges Land oder war das eine Fassade? Jede politische Partei hatte das Referendum von 2016 gebilligt. Bei den Wahlen 2017 versprachen Labour und die Konservativen beide, das Ergebnis zu respektieren. Aber im Lauf der Zeit wurde immer klarer, dass sie es nicht respektierten, und dass sie sogar planten, das ursprüngliche Ergebnis rückgängig zu machen. Die Gefahr für die Legitimität unseres Staatswesens war offensichtlich. Unser Status als souveräne Nation, die über ihre Zukunft selbst entscheidet, stand auf dem Spiel. Ein großer Teil der Eliten – in Politik, Wirtschaft, Medien, Universitäten – weigerte sich, ein demokratisches Mandat zu akzeptieren.
Das durfte man nicht zulassen. Und trotz der Anti-Brexit-Propaganda wurde es nicht zugelassen. Wenn die Vernunft und ein aufgeklärtes Eigeninteresse überwiegen, wird der Brexit kein Desaster, weder ökonomisch noch politisch. Wir wollen gleichberechtigt mit der EU Handel treiben. Wir werden nach wie vor überdurchschnittlich zur Verteidigung und zur Sicherheit Europas beitragen – die britischen Truppen im Baltikum werden bleiben, und unsere Geheimdienste dürften unseren europäischen Verbündeten weiterhin zugutekommen. In Zukunft werden wir unsere Politik weniger an Europa ausrichten – wozu sollten wir sonst zwei riesige neue Flugzeugträger bauen? –, aber wir bleiben eine europäische Nation.
Der Brexit stärkt den Zusammenhalt im Vereinigten Königreich, weswegen Nationalisten in Schottland, Nordirland und Wales ihn hassen. Unabsichtlich oder nicht ermutigt die EU Separatisten wie in Katalonien – solange Großbritannien zur EU gehört, können schottische Nationalisten sich vorstellen, Slowenien oder Luxemburg nachzueifern; nach dem Brexit wäre ein unabhängiges Schottland nicht überlebensfähig.
Kein Zweifel: Für das „europäische Projekt“ der 1950er Jahre ist der Brexit ein historisches Versagen. Doch es liegt im Interesse aller, künftig eine freundschaftliche Zusammenarbeit aufzubauen und den Antagonismus zu beenden, den einige EU-Politiker seit über drei Jahren befördert haben.
Robert Tombs ist emeritierter Professor für französische Geschichte an der Universität Cambridge und unter anderem Autor von ‚The English and Their History‘
No!
Warum sollte man das Verderben namens Brexit einfach hinnehmen? Eine tückische Regierung und eine charakterlose Opposition haben einfach übergangen, dass die Mehrheit der Briten den Brexit gar nicht will. Der Austritt aus der EU ist eine riesige, selbstauferlegte Handelssanktion, er schadet einer guten Sozialpolitik und er zerstört Freiheiten. Er nimmt den Menschen Rechte, den Jungen Chancen und er lässt einen sozial unfairen Staat verarmen. Die rührseligen 50-Pence-Gedenkmünzen mit der Aufschrift „Frieden, Wohlstand und Freundschaft mit allen Nationen“ verkünden die größten Lügen der Tory-Regierungen seit dem Brexit-Referendum.
England heute ist ein frauenfeindlicher Ort, an dem wenige Gewinner alles bekommen. Der Gestank eines bis ins Innerste korrupten Systems wird immer unerträglicher: Die Kluft zwischen Reich und Arm, zwischen Privilegierten und Schutzlosen, das Gefälle zwischen den Regionen, die vertraglich festgeschriebene Armut im Niedriglohnsektor, das Anspruchsdenken in der Monarchie. Das Wahlsystem verkörpert – und verstärkt – die Ungleichheit. Abgeordnete brüllen auf den Parlamentsbänken, um Widerspruch zum Schweigen zu bringen.
Die „neue“ Regierung ist pompös und hämisch. Sie weist ihre Verantwortung für die Spaltung dieser an sich toleranten Insel von sich. Statt die Betrüger zu jagen, die sich die Taschen auf Kosten der Allgemeinheit füllen, verlangt sie Unterwürfigkeit, befiehlt Gefolgschaft und duckt sich selbstgefällig weg, sollte das Volk Zweifel äußern. Der Trick lautet: Ihr habt das doch gewollt.
Wieso aber Chancen für junge Menschen zunichte machen, nur weil die Alten das wollten, von denen die meisten nie ins Ausland reisen wollen oder werden? Wenn die irgendeine Ahnung von der Weltpolitik hätten, würden sie dann immer noch den Blödsinn glauben, dass Großbritannien wieder groß werden kann, wenn stattdessen nur die Privilegierten und die Schurken die Freiheiten und den internationalen Einfluss behalten werden? Die Jungen und die Informierten aller Altersgruppen schämen sich dafür.
Doch britische Schulabgänger wissen zu wenig über die eigene Politik und Gesellschaft, ihnen fehlt das Wissen, wie Mehrheiten zustande kommen, wie Regierung, Parlament, Kommunen funktionieren und wie politische Entscheidungen zustande kommen, wie eine unabhängige Justiz funktioniert oder was sich hinter den gesetzlich verankerten Menschenrechten verbirgt. Noch weniger wissen junge Briten, wie in Europa Demokratie praktiziert und geschützt wird, es gibt auch zu wenig Aufklärung über die EU.
Viele Menschen, bis hinauf ins mittlere Alter, haben noch nie gewählt. Aus Scham oder Verzweiflung verteidigen sie ihre Verweigerungshaltung und merken nicht, dass sie damit Regierungen ermächtigen, ihnen den Rücken zu kehren. Hinter Gleichgültigkeit und Provinzialität verbirgt sich oft in Wahrheit das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber einer Regierung, die eine Sache sagt und das Gegenteil tut, ohne dass dies irgendwelche Konsequenzen nach sich zieht.
Aber kann die Regierung wirklich darauf vertrauen, dass die enttäuschten Millennials, die in der Zeit der Austerität aufgewachsen sind, den Schein guten Regierens nicht anzweifeln werden? Müssen sie ernsthaft den Befehlen ihrer Herren folgen, nur weil ihr Erwartungshorizont niedrig ist und sie Verachtung für ein System empfinden, dass sie von jeglichen Chancen und Zukunftsideen ausschließt?
Die Rufe nach einer Reform des Wahlrechts beruhen nicht nur auf dem Wunsch, dass die Sitzverteilung im Parlament die Stimmverteilung fair widerspiegelt. Es geht auch um mehr Gerechtigkeit und den Wunsch, Konsens bei politischen Entscheidung herzustellen. Das britische Wahlsystem ist auf Konfrontation ausgelegt. Es verkörpert eine Klassengesellschaft, in der Wohlstand, egal wie er erworben wurde, Ansprüche und Macht sichert. Warum soll sich eine Regierung um Konsens bemühen, wenn ein gezielter Mikrowahlkampf mit Bots ausreicht, um „demokratische“ Willensbildung hervorzubringen? Warum überhaupt so tun, als ob eine Regierung das Beste für das Volk will?
Es ist Brexit-Zeit
Der Brexit hat diesen Betrug einer fadenscheinigen Minderheitsdemokratie entlarvt. Wieso spielen Abgeordnete, EU, Europaparlamentarier in diesem Spiel der Lüge und der Zerstörung mit? Es ist Zeit, den Schweinestall auszumisten. Großbritannien gehört zur EU und wird wieder beitreten.
Die EU muss aber auch erkennen, dass Großbritannien ihren wunden Punkt aufgezeigt hat. Der Brexit stellt eine Herausforderung dar, auf die die EU antworten muss. Sie muss die Unpolitischen politisieren, die keinen Unterschied zwischen einer Parlamentswahl und einer Stimmabgabe in einer TV-Show sehen. Sie muss die Wachsamen empowern, die merken, wie ihre persönlichen Daten für privaten Profit missbraucht werden. Der Brexit ist eine Warnung an uns alle.
Juliet Lodge ist Gründungsmitglied der Gruppe „Women for Europe“ und ehemalige Direktorin des Zentrums für Europastudien an der Universität Leeds.
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