Pressefreiheit in Russland: Alles „Agenten“ und „Spione“

Seit dem Angriff auf die Ukraine schüchtert Russland Journalist*in­nen massiv ein. Unsere Autorin stellt sich täglich die Frage: Gehen oder bleiben?

Der Angeklagte sitzt in einem Glaskasten vor Gericht

Der „Wall Street Journal“-Reporter Evan Gershkovich bei einer Anhörung am 18. April Foto: Sergei Bobylev/ITAR-TASS/imago

MOSKAU taz | Russland-Berichterstattung ist oft eine Gerichtsprozess-Berichterstattung. Ein Mensch in Richterrobe verliest die Klageschrift, als ob jemand hinter ihm her wäre. Im sogenannten Aquarium, einem Käfig aus Glas, läuft währenddessen der Angeklagte seine kleinen Runden, als wäre er ein verletztes Tier im Zoo. Evan Gershkovich hat einige solcher Prozesse erlebt.

Der US-Amerikaner war vor fünf Jahren als Reporter nach Moskau gekommen. Seine Eltern hatten einst die Sowjetunion verlassen, ihre beiden Kinder an der amerikanischen Ostküste dennoch mit russischen Büchern erzogen. Der 31-Jährige wollte Russland verstehen. Oft war er auf Achse, hat über Proteste auf Mülldeponien geschrieben, über aussterbende Sprachen im riesigen Land, und ja, auch über etliche Gerichtsprozesse von Andersdenkenden.

Im April schlich Evan Gershkovich selbst wie ein verletztes Tier durch ein Moskauer Gerichts-Aquarium. Der russische Staat wirft dem Korrespondenten des Wall Street Journal „Spionage“ vor, eine Beschuldigung, die zu 20 Jahren Freiheitsentzug führen könnte.

20 Jahre Haft, weil der Journalist in einem Land seiner Arbeit nachgegangen ist, das Krieg führt und diesen offiziell nicht so benennen will. Der Fall Gershkovich trifft alle westlichen Korrespondent*innen, die in Moskau leben und arbeiten, ins Mark. Es stellt sich wie so oft seit dem 24. Februar 2022 die Frage: „Gehen oder bleiben?“ Ich schreibe seit mehr als fünf Jahren aus und über Russland. Es ist mein zweiter Aufenthalt als Korrespondentin in Moskau. Auch ich stelle mir täglich diese Frage.

Menschen schweigen aus Angst

Kann ich hier noch weiter arbeiten und mit meiner Familie leben? Gefährde ich unser Kind? Bringe ich meine Ge­sprächs­part­ne­r*in­nen noch weiter in Gefahr? Ertrage ich meine eigenen Ängste und die Schuldgefühle, wenn ich das Kind ganz erstarrt auf einem Sitz am Flughafen sehe, weil es erlebt, wie die Eltern vom Grenzschutz festgehalten werden – weil der Geheimdienst noch „zusätzliche Fragen“ stellen will? Wie stehe ich, oft selbst mit Emotionen wie Trauer, Wut, Hilflosigkeit kämpfend, dem Kind bei, wenn es auf einen Schlag Dutzende von Freunden verliert?

Immer mehr Bereiche werden unzugänglich – weil der Staat sie für Jour­na­lis­t*in­nen versperrt und weil viele Menschen aus Angst schweigen. Und doch: Die Nuancen des Lebens, die Stimmung in der Gesellschaft, die Klagen, die Unzufriedenheit, die kleinsten Veränderungen, sie werden erst im Land selbst ersichtlich. Für alle westlichen Jour­na­lis­t*in­nen bedeutet ein Verbleib in Russland eine Art „Fahren auf Sicht“.

Heimat ohne Freiheit oder Freiheit ohne Heimat

Auf dem Index der Pressefreiheit, den Reporter ohne Grenzen jährlich veröffentlicht, liegt Russland auf Platz 155 von 180 und damit fast gleichauf mit Staaten wie Pakistan und Afghanistan. 61 russische Medien und 129 russische Jour­na­lis­t*in­nen hat der russische Staat mittlerweile zum „ausländischen Agenten“ erklärt.

Knapp 320 unabhängige russische Medien sind im Land blockiert und lassen sich lediglich über einen VPN-Zugang lesen, der die Informationen durch einen verschlüsselten virtuellen Tunnel leitet. Doch russische Behörden sind mittlerweile auch geübt darin, zahlreiche VPN-Tunnel zu stören.

„Die schmutzigen Tricks des Staates werden nicht weniger. Und doch halte ich es für wichtig, hier zu sein, an einem Ort, wo grundlegende Sachen passieren, fürs Auditorium, das hier ist“, sagt der russische Journalist Wassili Polonski, der weiterhin aus Moskau berichtet.

Polonski hat einst für den unabhängigen TV-Sender Doschd gearbeitet. Doschd ist mittlerweile in Europa stationiert, seine Homepage ist in Russland gesperrt, etliche Doschd-Journalisten sind zu „ausländischen Agenten“ erklärt worden. Später war er für Nowaja Gaseta im Einsatz. Die Zeitung hat längst keine Medienregistrierung mehr in Russland. Polonski berichtet mittlerweile für ihren europäischen Ableger, allen Risiken zum Trotz.

Auch Dmitri Muratow, Friedensnobelpreisträger und Chefredakteur der Nowaja Gaseta, weiß, wie schwer es für alle unabhängigen russischen Jour­na­lis­t*in­nen ist, sich zu entscheiden, ob sie in Russland bleiben oder aus dem Ausland berichten wollen. „Heimat ohne Freiheit oder Freiheit ohne Heimat – das ist ein Dilemma.“

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.