Buchautorin über russische Gegenkultur: „Die Nischen sind geschrumpft“

Die Autorin Norma Schneider veröffentlicht mit „Punk statt Putin“ ein Buch über russische Gegenkultur. Trotz Krieges widersetzt sich diese der Repression.

Miglieder von Pussy Riot vor einer Polizeistation

Die Band Pussy Riot verlässt die Polizeistation in Sotschi während der Winterolympiade 2014 Foto: Eric Gaillard/reuters

taz: Frau Schneider, Sie haben mit der Recherche für Ihr Buch deutlich vor dem russischen Überfall auf die Ukrai­ne begonnen. Ist Gegenkultur in Russland vor und nach dem Kriegsbeginn überhaupt vergleichbar?

Norma Schneider: Der 24. Februar 2022 hat auch für die russischen Gegenkultur alles verändert. Die schon zuvor engen Nischen für oppositionelle Kunst und Proteste sind noch einmal massiv geschrumpft. Gegenkultur nimmt nun eine viel klarere Opposition zum Regime ein, und das System Putin begreift sie viel stärker als Feind. Das hat rasch dazu geführt, dass ein Großteil inzwischen im Exil stattfinden muss, weil Freiräume innerhalb Russlands kaum mehr existieren.

Welche Auswirkungen hatte der 24. Februar auf die Arbeit an Ihrem Thema?

Zunächst praktische: Meine für April letzten Jahres geplante Recherchereise nach Russland konnte ich nicht mehr durchführen. Aus Sicherheitsgründen, aber auch – und das war die nächste Erkenntnis – weil mein Konzept geändert werden musste. Ursprünglich interessierte mich, was an Gegenkultur in Russland möglich ist. In westlichen Medien hört man meist nur etwas, wenn jemand ins Gefängnis wandert. Wie etwa bei Pussy Riot, über die erst breiter berichtet wurde, als die Künstlerinnen vor Gericht standen und schließlich ins Straflager mussten. Daneben aber passiert viel Uneindeutiges, Widersprüchliches, und es ist nicht so, dass man für alles gleich ins Gefängnis kam. Manches, was von außen betrachtet als klare Provokation erschien, wurde kaum geahndet, anderes, das viel zahmer wirkte, hingegen schon. Diese Ambivalenz wollte ich mit meiner Recherche ausleuchten, aber mit dem 24. Februar 2022 war sie auf einen Schlag verschwunden.

Weil Künst­le­r:in­nen sich positionieren mussten?

Genau. Es stellte sich die zwingende Frage: Bin ich gegen diesen Krieg? Dann muss ich ins Exil oder kann nicht mehr öffentlich arbeiten, weil das Putin-Regime hart gegen jeden Widerspruch vorgeht. Oder schweige ich dazu und heiße den Überfall samt seinen Kriegsverbrechen damit gut, stelle mich also auf die Seite des Regimes. Diese neue Absolutheit teilt das Buch in zwei Teile: Das Verhältnis zwischen Staat und Gegenkultur in den Putin-Jahren vor dem Krieg. Und die Zeit seit 24. Februar 2022, was heute noch möglich ist.

Löst der Kriegsbeginn eine stilistische Definition von Gegenkultur ab durch eine inhaltliche? Auch die Putin-nahe Opernsängerin Anna Netrebko verurteilte den Krieg irgendwann, aber macht sie das zum Teil der Opposition?

Gegenkultur ließ sich meiner Meinung nach auch vor Kriegsbeginn nicht stilistisch definieren. Das tue ich in meinem Buch auch bewusst nicht. Es gibt in Russland viele Beispiele von Kunstformen, die rein formell häufig der Gegenkultur zugeschrieben werden – etwa Aktionskunst, experimentelle Musik und Graffiti – die inhaltlich aber auf Linie mit dem Regime sind. Was auch daran liegt, dass die russische Politik sich aktiv um diese Kulturformen mit ihrem jüngeren Publikum bemüht und diese patriotisch auflädt.

Ihr Buch beschreibt einen absurden Versuch politischer Vereinnahmung: Da erklärt ein russischer Nachrichtensprecher, dass Rap mitnichten afro­amerikanischen Ursprungs sei, sondern urrussische Wurzeln habe beim sowjetischen Dichter Wladimir Majakowski. Wird das etwa geglaubt?

Mein Eindruck ist, dass die Mehrzahl der jungen Menschen darauf nicht hereinfallen, schon weil sie die TV-Propaganda-Sendungen gar nicht sehen. Fernsehen ist für sie kein relevantes Medium mehr. Gleichzeitig erreicht der Propagandaapparat insgesamt durchaus ein jüngeres Publikum, etwa über patriotische Jugendorganisationen.

Wie sehr hat die Recherche aus der Ferne den Buchinhalt geprägt?

Ich musste ohne Reportage-Eindrücke auskommen. Ohne Vor-Ort-Recherche fehlt meinem Buch somit das Gefühl, wie es ist, sich in einem extrem repressiven Staat wie Russland in der Gegenkultur zu bewegen. Wie ist die Stimmung auf einem Punk-Konzert? Wie geht es den Organisatorinnen einer feministischen Lesung? Aber das ändert nichts daran, dass ich den Aufbau des Buchs für richtig halte: Ich beginne mit einem eher theoretischen Teil zur Rolle von Kultur in Russland und zeige auf, wie Gegenkultur in diesem Umfeld funktioniert. Und dann nenne ich Beispiele für Gegenkultur und wie sie sich durch den Krieg verändert hat. Dafür habe ich mit vielen Ver­tre­te­r:in­nen gesprochen, die persönliche Einblicke haben.

Auch ohne diese reportagigen Elemente erinnern Passagen Ihres Buchs an eine historische Form westlicher Gegenkultur, als angesagte Namen noch Geheimwissen waren und von Punk-Konzerten ein Hauch von Gefahr ausging. Besteht Nostalgiegefahr?

Nein. An keiner Stelle wünsche ich mir eine vermeintlich authentische Gegenkultur mit Risiken und Repressionen zurück. Durch die Beschäftigung mit russischer Gegenkultur habe ich eher das Privileg zu schätzen gelernt, in Deutschland selbst organisiert kritische Kultur schaffen zu können, ohne Gefahr zu laufen, dafür jahrelang ins Gefängnis zu gehen. Wenn in Russland bestimmte Texte nur unter der Hand verbreitet werden, wenn Veranstaltungsorte nur über Vertrauenspersonen weitergegeben werden, dann passiert das aus der schieren Not heraus, sich schützen zu müssen.

Gegenkultur entwickelt sich gewöhnlich auch strukturell: Verlage, Räume, Ver­an­stal­te­r:in­nen verbinden Künst­le­r:in­nen zu etwas Größerem, einer Szene. In Russland scheint derzeit im Gegenteil eine Atomisierung stattzufinden.

Die Autorin Norma Schneider, Jahrgang 1988, lebt in Frankfurt am Main und arbeitet frei als Journalistin und Lektorin. In den vergangenen Jahren hat sie sich mit unterschiedlichen Formen russischer Gegenkultur und der Ideologie des Putin-Regimes befasst.

Das Buch „Punk statt Putin. Gegenkultur in Russland“ (Ventil Verlag, Mainz 2023, 160 Seiten, 16 Euro) beschreibt schrumpfende Spielräume, schwindende Möglichkeiten und den kreativen Umgang der russischen Subkultur mit dieser Lage. Seit Beginn des Angriffskriegs gegen die Ukraine ist regierungskritische Kultur in Russland zum Drahtseilakt zwischen Gefängnis und Exil geworden. Schneider konzentriert sich auf vor allem auf Musik und Literatur. Das aus sicherer Distanz recherchierte Buch wirft einen klaren Blick auf die Rolle von Gegenkultur in einem repressiven Staat.

Nach meinen Recherchen ist mein Eindruck, dass es lokale Szenen bis heute gibt, schon allein, weil die Zahl der Aktiven überschaubar ist und man sich untereinander kennt. Auch innerhalb Russlands ist Gegenkultur weiterhin vernetzt, der Größe des Landes wegen eher digital. Es existiert beispielsweise ein feministisches Netzwerk, das in verschiedenen Städten versucht, sichere Räume zu schaffen, aber auch überregional verbunden ist. Dass diese Szenen heute von außen kaum mehr sichtbar sind, liegt an den gestiegenen Repressionen. Kleine, singuläre Projekte haben bessere Chancen, unter dem Radar des Regimes zu bleiben. Kaum jemand will gerade in Konfrontation mit dem Regime gehen.

Wie hat der Krieg gegen die Ukraine Rolle und Funktion von Gegenkultur verändert?

Sie ist auf zwei Arten wichtiger geworden: Als Versicherung innerhalb der Szene, nicht allein zu sein. Und als Korrektiv, das staatliche Propaganda entlarvt, die den Krieg als „Spezialoperation“ verkleidet und von „Denazifizierung“ in der Ukraine schwadroniert. Doch der Raum für Kultur, die das Regime herausfordert, ist so eng geworden, dass sie ganz überwiegend im Exil stattfinden muss und dort hauptsächlich Menschen erreicht, die ohnehin Putins Lügen durchschauen.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wenn jemand wie die Künstlerin Sasha Skochilenko Supermarktpreisschilder in St. Petersburg durch Informationen über die Gräueltaten der russischen Truppen in Mariupol austauscht, ist das hochgefährlich. Sie sitzt seit Monaten im Gefängnis, ihr drohen bis zu zehn Jahre Haft.

Interventionen wie die genannte bleiben nachdrücklich in Erinnerung. Ihr Buch aber beschäftigt sich hauptsächlich mit Musik und Literatur. Waren dieser Schwerpunkte rückblickend richtig?

Ja. Literatur ist ein langsames Medium, kritische Bücher zur aktuellen Lage sind vermutlich gerade im Entstehen. Sie ist eine wichtige Form der Reflexion, schon weil die russische Mainstream-Kultur sich so stark über die russischen Klassiker definiert. Wie wirkmächtig Literatur sein kann, zeigt der queere Bestsellerroman „Sommer im Pionierhalstuch“. Erst sein Erfolg führte zu schärferen Gesetzen gegen die Darstellung „nicht traditioneller Beziehungen“. Musik wiederum ist ein schnelles Medium, das traditionell von der Gegenkultur genutzt wird. Hier gibt es bereits erste kritische Songs von bekannten russischen Bands, die ein ungleich größeres Publikum erreichen als eine Performance, von der es vielleicht ein, zwei Fotos gibt.

Die Literatur- und Musikkapitel enden mit Lese- und Song­listen. Warum?

Mir erscheinen diese Listen als logische Verlängerung des Versuchs, diese Kulturformen inhaltlich sichtbar zu machen, über mögliche Haftstrafen und Gerichtsprozesse hinaus. Mein Buch will mehr sein als theoretische Betrachtung. Ich sehe in diesen Liedern und Texten einen künstlerischen Wert, den das Buch mitteilen will.

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