Präsidentschaftswahlen in den USA: Bidens Risikospiel
Der US-Präsident könnte als sehr erfolgreicher Präsident in die Geschichtsbücher eingehen – wenn er auf eine erneute Kandidatur verzichten würde.
S ollte Joe Biden sich – theoretisch – doch noch dagegen entscheiden, erneut als US-Präsident zu kandidieren, ginge er als herausragendes Staatsoberhaupt in die Geschichte der Vereinigten Staaten ein. Für eine zweite Amtszeit anzutreten, wie er es vorhat, setzt hingegen alles, was er erreicht hat, aufs Spiel.
Bidens Erfolge sind bedeutend und übersteigen die seiner Vorgänger Bill Clinton oder Barack Obama, die jeweils acht Jahre im Amt waren. Er besiegte 2020 den Rechtspopulisten Donald Trump und beseitigte so eine schwere Gefahr für die USA. Und bei den Zwischenwahlen 2022 gewann Bidens Demokratische Partei sogar einen Senats- und mehrere Gouverneurssitze hinzu. Weder Clinton noch Obama kamen da auch nur annähernd heran.
Im Weißen Haus hatten zunächst die Folgen der Coronapandemie Priorität: Bidenomics entschärfte sie für die ärmeren US-Bürger mit der größten Erweiterung von Sozialleistungen seit einem halben Jahrhundert. Der von Biden eingebrachte American Rescue Plan brachte den ärmsten US-Amerikanern deutliche Verbesserungen: Erweiterte Bundeshilfen für Lebensmittel, Wohnkosten und andere Grundbedürfnisse halfen, die Armutsrate auf ein Rekordniveau zu senken.
Mit dem Infrastructure Investment and Jobs Act sowie dem Inflation Reduction Act (IRA) sollten rund 2 Billionen Dollar in den Ausbau und die Erneuerung der Infrastruktur im gesamten Land fließen, dazu sollten Erziehungswesen, Gesundheitsversorgung und Umweltschutz besser finanziert werden.
Der IRA ist das Kernstück der US-Klimaschutzpolitik und sieht Ausgaben von mindestens 370 Milliarden Dollar für den Ausbau erneuerbarer Energien vor – dass auch die Kernenergie dazugehört, ist eine Verschwendung von Teilen dieser großzügig bemessenen Finanzmittel, aber kein Hindernis für den mit Hochdruck vorangetriebenen Ausbau echter erneuerbarer Energien. Angesichts eines polarisierten Kongresses und hauchdünner Mehrheiten für Biden musste bei diesem Füllhorn an Ausgaben für alle etwas dabei sein, um der Klimakrise begegnen zu können – und Biden hat seine Chance mit beiden Händen ergriffen.
Zudem sorgt der IRA dafür, dass die 66 Millionen älteren US-Bürger, die über das Medicare-Programm krankenversichert sind, die gebräuchlichsten Medikamente günstiger erhalten. Jahrzehntelang hatten sich weder Demokraten noch Republikaner mit der Pharmaindustrie darauf einigen können, nun sparen der Staat Milliarden und ältere Patienten viele Tausend Dollar Kosten für ihre Arzneimittel.
Was auch ein wichtiges Signal setzte: Biden hat bewusst wichtige Regierungsposten mit Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und sexueller Orientierung besetzt. Mit Ketanji Brown Jackson nominierte er die erste schwarze Frau für das Oberste Gericht. Und auf der außenpolitischen Habenseite Bidens steht, dass er die transatlantische Partnerschaft gestärkt, den US-Truppeneinsatz in Afghanistan beendet hat und die Ukraine standhaft unterstützt. Aus all diesen Gründen ist Biden fest davon überzeugt, dass er einen weiteren Wahlerfolg erzielen kann.
Selbstvertrauen ohne Basis
Aber Bidens Selbstvertrauen ist nicht gerechtfertigt – sein Weg zur Wiederwahl ist mit Ungewissheiten und gewaltigen Risiken gepflastert. Trotz des von ihm Erreichten sind laut Umfragen nur rund 40 Prozent der Bevölkerung mit seiner Amtsführung zufrieden, was für einen Amtsinhaber, der wiedergewählt werden will, wenig ist. Landesweit liegen Donald Trump – der vermutlich wieder für die Republikaner antritt – und Biden Kopf an Kopf.
Die erste und wichtigste Schwachstelle ist Bidens Alter: Der Präsident wäre am Ende einer zweiten Amtszeit 86 Jahre alt. Sein hohes Alter ist der wesentlichste Grund für die allenfalls lauwarme Begeisterung vieler Demokraten für seine Kandidatur. Zu Recht: In diesem Alter fordern ihm ein kräftezehrender Wahlkampf und der zermürbende Job eines US-Präsidenten zu viel ab. Biden ist zwar robust für sein Alter, aber er zeigt Schwächen: Er spricht undeutlich, verliert mitten im Satz den Faden. Was, wenn er sich auch in einer der großen Debatten mit Trump böse verheddert? Es könnte ihn die zwei oder drei Prozentpunkte Stimmen kosten, die er für einen Sieg über Trump braucht.
Zudem: Es ist ausgesprochen egoistisch, dass Biden – wie auch andere hochbetagte Persönlichkeiten der US-Politik – nicht bereit ist, für die nächste Generation Platz zu machen. Es gibt bei den Demokraten zahlreiche ausgesprochen beeindruckende Abgeordnete im Kongress, dazu Bürgermeister oder Gouverneure, die in ihren Ämtern Erfahrung gesammelt haben. Ich nenne nur Gretchen Whitmer, die Gouverneurin von Michigan, aber es gibt noch weitere Namen. Wenn sie sich bei Vorwahlen beweisen könnten, würde man sehen, wer die besten Chancen beim Wahlvolk hätte.
Problem Kamala Harris
Die zweite Bürde auf dem Weg zu Bidens Wiederwahl ist Vizepräsidentin Kamala Harris. Man kann darüber streiten, ob ihr schlechtes Image gerechtfertigt ist, aber bisher hat sie nicht beeindruckt und ist in Umfragen sogar noch weniger beliebt als Biden oder Trump. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie Biden im Fall seines Todes ersetzen muss, ist ziemlich groß. Ich habe von niemandem gehört, der das begrüßen würde. Denkbar wäre, dass Biden sie durch einen neuen Running Mate ersetzt, womöglich den eloquenten schwarzen Senator Raphael Warnock.
Als Spielverderber könnte auch ein dritter Kandidat wirken, womöglich gar als Konkurrenz von links, etwa der schwarze Intellektuelle Cornel West, der für die Grüne Partei antreten will. Bidens Weg zu einer zweiten Amtszeit ist vermint. Falls für ihn etwas schiefgeht, droht eine Rückkehr Donald Trumps ins Oval Office. Das wären gefährliche und verstörende Aussichten für die USA, mit erschreckenden globalen Konsequenzen.
Paul Hockenos, Jahrgang 1963, ist ein US-amerikanischer Journalist und lebt in Berlin. Er schreibt unter anderem für das Magazin Foreign Policy. Er ist im Bundesstaat New York aufgewachsen.
Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Schaaf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Ende der scheinheiligen Zeit
Hilfe, es weihnachtete zu sehr
Schäden durch Böller
Versicherer rechnen mit 1.000 Pkw-Bränden zum Jahreswechsel