Präsenzpflicht an Berlins Schulen: Ohne Not ins Chaos
Drei Wochen hielt Schulsenatorin Busse (SPD) durch – um dann doch noch die Präsenzpflicht an Schulen auszusetzen. Warum nur?
W enn derzeit, mitten in der Hochphase der Omikron-Welle, im Bund über eine mögliche Corona-Impfpflicht diskutiert wird, dann auch deshalb, um der Öffentlichkeit zu suggerieren: die Politik tut etwas gegen Corona – wenn auch nicht gegen die aktuell dramatische Lage mit Inzidenzen von mehr als 3.000 im Berliner Bezirk Mitte. Ob die Impfpflicht kommt, ob sie dann im Sommer oder Herbst oder Winter etwas gegen die eventuelle nächste Welle ausrichten kann, ist völlig offen. Gut möglich, dass die Debatte im Rückblick eine riesige Luftnummer ist.
Ähnlich verhält es sich mit der Maßnahme, die Berlins Schulsenatorin Astrid-Sabine Busse oder Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) oder beide gemeinsam – so genau weiß man das nicht – am Montagnachmittag überraschend beschlossen haben: Die Präsenzpflicht wird ausgesetzt. Eltern können bis Ende Februar also selbst entscheiden, ob ihre Kinder in die Schule gehen oder zu Hause lernen.
Gefordert hatte diesen Schritt nach Brandenburger Vorbild eigentlich nur die Linkspartei, und deren Vorschläge pflegen die Bildungspolitiker*innen der Berliner SPD üblicherweise vornehm zu ignorieren. Die wichtigsten anderen Interessenvertreter*innen in Sachen Schule – die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) und die Verbände der Schulleiter*innen – hatten sich vielmehr für die Einführung des Wechselunterrichts an möglichst allen Schulen eingesetzt; dass also Klassen geteilt werden und mal zu Hause, mal vor Ort unterrichtet werden. Und zwar geordnet. Jetzt dürfte der Wechselunterricht an vielen Schulen durch die Hintertür kommen, mit deutlich mehr Aufwand bei der Organisation.
Es gibt mehrere weitere Gründe, die Aussetzung der Präsenzpflicht höchst irritierend zu finden. Seit ihrem Dienstantritt am 21. Dezember 2021 hatte sich Busse vehement dagegen ausgesprochen und damit die Linie ihrer Vorgängerin Sandra Scheeres (auch SPD) fortgesetzt. Busse hatte trotz der drohenden Omikronwelle – von der niemand weiß, wie sie letztlich aussieht – nach den Weihnachtsferien auf Präsenz in den Schulen und auf das erprobte Ampelmodell gesetzt, wonach die Lage an jeder Schule einzeln immer donnerstags untersucht wird.
Sie war damit gut gefahren: Auch Wochen nach den Weihnachtsferien drei musste keine Schule geschlossen werden; lediglich 35 der über 800 allgemeinbildenden Schulen war zwangsweise im Wechselunterricht.
Nun hatten Schüler*innen und Lehrkräfte das erstmal rettende Ufer – die einwöchigen Winterferien, die am 29. Januar begannen – fast erreicht, da knickte Busse doch noch ein. Mit chaotischen Folgen: Die Aussetzung traf die Schulleitungen am Montagnachmittag völlig unvorbereitet; Schüler*innen und Eltern wurden von ihnen nur seltenst über den Schritt und die Auswirkungen informiert. An einigen Schulen kam bis Ende der Woche kein Elternbrief – obwohl viele Klassen bereits nur noch halb gefüllt waren, und eben nicht nur aus Gründen der Quarantäne. Busse brachte mit dem Schritt die Schulleitungen gegen sich auf und sorgte an den Schulen für Chaos – und das völlig unnötig.
Nun mag man sagen: Die letzten Tage vor den Ferien, da passiert in den Schulen sowieso nichts Relevantes mehr und die Noten für das am Freitag ausgegebene Halbjahreszeugnis stehen auch längst fest. Das stimmt natürlich.
Das Gegenteil von überlegter Politik
Dennoch ist das überstürzte Handeln von Busse, mindestens mit Rückendeckung durch die einstige Bundesfamilienministerin Giffey, ein Affront: Es ist wieder einmal keine überlegte Politik für Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern, sondern blinder, zu diesem Zeitpunkt unnötiger Aktionismus, wie man ihn aus früheren Coronawellen kennt. Er hat vor allem das Ziel, von der eigentlichen Taktik der Politik abzulenken: das Aussitzen der fünften Coronawelle in der Hoffnung, deren Höhepunkt möge bald erreicht und überwunden sein. Und das kann ja durchaus aufgehen.
Nun aber trifft die Aussetzung der Präsenzpflicht gerade jene Eltern, die nicht die materiellen Möglichkeiten oder entsprechenden Bürojobs haben, um ihre Kinder zu Hause zu betreuen und mit ihnen Homeschooling zu machen. Das hatte die Politik im Herbst anders versprochen. Die Maßnahme reduziert das Vertrauen in die Politik weiter – und jene ist sogar selbst daran schuld.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann