Porträtmalerei aus der Weimarer Zeit: Freies Subjekt und schwierige Type
Im Kunstmuseum Stuttgart ist Porträtmalerei aus der Weimarer Zeit zu sehen. Die zugrundeliegende Typenlehre geriet bald auf rassistische Abwege.
Radikal schnörkellos. So präsentiert sich die Malerin Kate Diehn-Bitt in ihrem Gemälde „Selbstbildnis als Malerin“. Sogenannte weibliche Attribute? Fehlanzeige. Der Ärmel ihres schlichten weißen Hemdes ist hochgekrempelt, ihr linker Arm mit dem Pinsel in der Hand ist angewinkelt. Stolz blickt sie dem Betrachter in die Augen. Nichts ist weich, es wird nicht gelächelt, kein Schmuck, keine Rüschen, keine Blumen. Kate Diehn-Bitt zeigt sich als typische „Neue Frau“ der Weimarer Republik. Eine sogenannte Garçonne, die gleiche Freiheiten wie Männer genießt.
Ganz anders die 1929 entstandene Lithografie „Selbstbildnis“ von Hanna Nagel. Die Künstlerin hat sich gleich sieben Mal auf dem Bild verewigt. Selbstbewusst und breitbeinig beim Schminken, während ein Mann hinter ihr kniet und sie begehrend ansieht, erschöpft im Bett liegend oder zeichnend mit Brille. Vorne, im Mittelpunkt des Bildes, umarmt sie ein großes rundes Glas, in dem ein Embryo kauert. Dunkle Ringe liegen unter ihren Augen, der Blick geht ins Leere. Die neue Zeit der Weimarer Republik brachte für Frauen ungewohnte Freiheiten – doch die alten Rollen ließen sich nicht so einfach abstreifen.
Blick in den wahren Abgrund
Zu sehen sind beide Bilder in der Ausstellung „Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit“ am Kunstmuseum Stuttgart. Es geht um den in der Weimarer Republik allgegenwärtigen Hang zur Typisierung. Um die Freiheit – und die Zwänge, die dieses Phänomen mit sich brachte. Gezeigt wird großartige Kunst von bekannten Malern wie Otto Dix, George Grosz und Christian Schad und echte Entdeckungen, hauptsächlich von Künstlerinnen, wie Grethe Jürgens, Dodo (Dörte Clara Wolff) oder Jeanne Mammen. Dazu gibt es viel interessantes Begleitmaterial: Magazine, Bücher und Filme, die den Hang zur Einordnung von Menschen in der Weimarer Zeit überzeugend belegen.
„Sieh Dir die Menschen an! Das neusachliche Typenporträt in der Weimarer Zeit“: Kunstmuseum Stuttgart, bis 14. April 2024.
Nur ein Aspekt fehlt. Den Blick in den wahren Abgrund hinter diesem Thema wagt die Ausstellung nicht: Wie die Nazis die Einordnung von Menschen nach ihren äußeren Merkmalen für ihre Rassenideologie zu nutzen wussten. Und damit auch für ihre beispiellos tödliche Vernichtungsmaschinerie. Eine schmerzhafte Leerstelle.
Gerade im Hinblick auf den Titel der Ausstellung ist das fatal. Das titelgebende Buch „Sieh dir die Menschen an!“ erscheint 1931. Der Mediziner Gerhard Venzmer hat damit eine Art Lebensratgeber veröffentlicht. Das Buch beschreibt, wie sich vom Äußeren eines Menschen sein Charakter ableiten lässt. Die Grundlage für diese Theorie legte die 1921 von dem Psychiater Ernst Kretschmer veröffentlichte Konstitutionslehre „Körperbau und Charakter“, in der er vom Körperbau eines Menschen auf bestimmte psychische Störungen schließt. Beide Männer gelten als maßgebliche Protagonisten im Diskurs der Typenlehre, ihre Bücher waren in den 1920er Jahren Bestseller.
Richter am Erbgesundheitsgericht Marburg
1931 veröffentlichte Venzmer das in eine ähnliche Schlagrichtung abzielende Buch „Deine Hormone – Dein Schicksal“. Ein Buch, das auch das nationalsozialistische Propaganda-Blatt Völkischer Beobachter positiv bespricht. In seiner 1934 in der Zeitschrift Kosmos veröffentlichten Artikelreihe „Was jeder von der Rassenkunde wissen muss“ fordert Venzmer die Etablierung einer „zielbewussten“ Eugenik, deren Aufgabe es sei, „über alle Rassen hin das Minderwertige, Lebensunfähige und unheilbare Kranke auszumerzen“.
Ernst Kretschmer wiederum war, wie der auf die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Medizinverbrechen spezialisierte Journalist Ernst Klee recherchiert hat, Richter am Erbgesundheitsgericht Marburg und hat dort 1934 die Sterilisation „Schwachsinniger“ befürwortet. 1941 nahm er an einer Sitzung des Beirats der Aktion T4 teil, die den systematischen Massenmord an mehr als 70.000 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen in Deutschland von 1940 bis 1941 zu verantworten hatte.
Zu Venzmers und Kretschmers Nazi-Affinität findet sich in der Ausstellung nur eine kleine Randnotiz. Man könne Venzmer „nicht nur als Nutznießer, sondern auch als Wegbereiter der rassischen Nationalideologie des NS-Regimes identifizieren“, steht auf einer kleinen grauen Plakette. Sonst ist zu dem Einfluss und dem Zusammenhang der Schriften der beiden Männer auf die nationalsozialistische Rassentheorie nichts zu finden.
So sieht man die beeindruckende Kunst der Weimarer Zeit auf drei Etagen des Stuttgarter Museums. Kann die Radikalität ihrer realistischen Darstellung bewundern. Und die neuen sozialen (Rand-)Typen bestaunen, die in dieser Zeit überhaupt zum ersten Mal als malenswerte Sujets wahrgenommen wurden. Mit der Frage, wer von ihnen den Nationalsozialismus überlebt hat und wer nicht, lässt die Ausstellung ihre Besucher jedoch gnadenlos allein.
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