Porträt Boris Nemzow: Der Freidenker
Der Kremlkritiker war kein Mann, der aufgab. Er setzte sich seit jeher für ein demokratischeres Russland ein. Der Mord an ihm erschüttert das Land.
MOSKAU taz | Es war in den vergangenen Jahren ruhiger um ihn geworden. Zwangsläufig. Die staatlichen Medien mieden den unversöhnlichen Kremlkritiker. Bei fast allen Sendern stand er auf der schwarzen Liste. Wurde dennoch über ihn berichtet, so waren es kurze Notizen. Hinweise meist, dass der Oppositionelle in Zusammenhang mit einer „nicht genehmigten Aktion“ vorübergehend in Gewahrsam genommen worden sei.
Für den charismatischen Politiker muss dies nicht einfach gewesen sein. Doch darüber sprach er nicht. In den 1990er Jahren war Boris Jefimowitsch Nemzow der Star des jungen postsowjetischen Russland. Präsident Boris Jelzin hatte einen Narren an ihm gefressen. Er machte ihn zum Ziehsohn, ließ ihn als Gouverneur mit Reformen experimentieren, ernannte ihn zum Vizepremier und versprach ihm gar die Nachfolge im Kreml. Doch dazu kam es nicht.
In seinem letzten Interview vor dem Attentat erzählte Nemzow dies noch einmal im Radiosender Echo Moskwy: „Jelzin hatte mich als Nachfolger vorgesehen, überlegte es sich dann aber und machte Putin zum Präsidenten. Das war sein größter Fehler“, sagte er da lachend.
Mit dem 55-jährigen Oppositionellen hätte Russland gewiss einen anderen Weg eingeschlagen. Vor allem einen friedlicheren, der Recht und Gesetz auch gegenüber den Nachbarn hätte gelten lassen. Denn im Unterschied zu anderen Vertretern der Opposition war Nemzow kein russischer Revanchist. Das Imperium trug er nicht mehr wie viele andere in sich. Im Gegenteil, er war einer der wenigen, die erkannt hatten, dass der imperiale Fluch Russland ins Verderben stürzt.
Daher setzte er sich schon 2004 für die Orange Revolution in der Ukraine ein. Die in Russland verbreitete Haltung, „Kleinrussen“ zu belehren, war ihm fremd. In letzter Zeit wurden es immer weniger, die diese Stimme hören wollten. Auch das sagte der einst Erfolgsverwöhnte noch auf Echo Moskwy: „Mir ist klar, dass die Opposition bei den Russen heute wenig Gehör findet“. Nemzow gab aber nie auf.
Kampf gegen Korruption
Immer wieder versuchte er als Vertreter der „nicht systemkonformen“ Opposition einen Fuß in die Politik zu bekommen. 2009 kandidierte er bei den Bürgermeisterwahlen in seiner Geburtsstadt Sotschi. Mehr als ein kleiner Achtungserfolg war gegen die Interessengemeinschaft aus Kreml und Region ohne Zugang zu den elektronischen Medien nicht herauszuholen. Er revanchierte sich entsprechend mit einem Bericht über die Korruption bei der Vorbereitung der Olympischen Spiele. 2013 schaffte er dann den Sprung in das Gebietsparlament von Jaroslawl. Für die Arbeit in den Niederungen der Politik war er sich nicht zu schade. Die „Vertikale der Korruption“ müsse in Russland auf allen Ebenen bekämpft werden, hieß seine Devise.
Dass der Kreml ihn und die gesamte Opposition zu „Nationalverrätern“ stempelte, ließ den abgeklärten Politiker dennoch nicht kalt. Er beklagte sich, wie die Machthaber ihn zum „vaterlandslosen Gesellen“ machen konnten. Obwohl seine Kinder in Russland lebten, die der Elite, darunter von Außenminister Sergej Lawrow und Wladimir Putin, dagegen im Ausland studierten. Hass und Gewalt gegen Andersdenkende waren in der Gesellschaft längst gesät.
Dieser Hass wird im Krieg gegen die Ukraine instrumentalisiert, lässt sich aber nicht mehr eingrenzen. Der hybride Krieg gegen den Nachbarn ist als hybrider Terror auch in Russland angekommen. Wie lange die Machthaber ihn wohl noch gewähren ließen, soll Nemzow engere Freunde in letzter Zeit häufiger gefragt haben. Alte Wegbegleiter rieten ihm schon seit Längerem, das Land zu verlassen.
„Ich gehe nicht, wer soll sich sonst mit ihnen schlagen“, hätte Nemzow ihm vor kurzem erwidert, berichtet der Chefredakteur von Echo Moskwy, Alexei Wenediktow. Nemzow hatte eine Vorahnung, zog aber keine Konsequenzen, auch nicht als seine Mutter ihn bat, Putin nicht weiter zu reizen. Die Ankündigung, eine Studie über die Beteiligung der russischen Armee im Ukrainekrieg vorzulegen, beschleunigte die tödliche Abrechnung sicherlich.
Nemzow vermasselte Putins Karriere
Boris Nemzow war schon lange nicht mehr der „ewig strahlende Sieger“, als der er sich in seiner Autobiografie „Der Provinzler“ in den 1990er Jahren präsentiert hatte. „Ich bin aber der moralische Sieger“, sagte er einmal. Doch zu welchem Preis. Die junge Generation kannte ihn nicht mehr. Viele haben das erste Mal auf den Demonstrationen gegen den Wahlbetrug bei den Dumawahlen im Winter 2011 von ihm gehört. Die Proteste der Mittelschicht in den Monaten vor der Wiederwahl Wladimir Putins in den Kreml waren für die Opposition ein Hoffnungsschimmer.
Nemzow fehlte auf keinem Podium. Doch war die Opposition der Gewalt und List des Kreml nicht gewachsen. Es gelang ihr nicht, sich auf einen Kompromiss zu einigen. Der Protest verebbte und ging mit der Annexion der Krim im nationalen Rausch endgültig unter.
Boris Nemzow stand aber damals schon für eine längst untergegangene Epoche – die Zeit des Umbruchs der 1990er. Mit Alexei Nawalny hatte inzwischen ein neuer Kremlgegner die politische Bühne betreten, der in der Gunst des Publikums an den jungen Boris Nemzow erinnerte. Nawalny trat auch als Antikorruptionskämpfer in dessen Fußstapfen. Am Tag der Beisetzung wird er noch in Haft sitzen, auch darin übernimmt er die Stafette des Vorgängers.
Mit Putin hatte Nemzow mehr als eine politische Rechnung zu begleichen. Der Jelzin-Nachfolger vermasselte ihm die Karriere. Viele Mitstreiter aus den 1990er Jahren arrangierten sich mit der neuen Macht. „Ehemalige Kollegen wundern sich, weil ich als Einziger aus der alten Reformerriege offen gegen das Regime opponiere“, sagte er im Gespräch mit der taz, die ihn mehrfach traf. Bis 2007 bekleidete Nemzow noch den Posten eines der Vorsitzenden der früheren Reformpartei Union der Rechtskräfte. Diese zerbrach in der Putin-Ära an der widersprüchlichen Haltung zum herrschenden System.
Probefahrt mit Wodkaglas
Eigentlich war er ein Dinosaurier im Politikgeschäft. Seit dem Niedergang der Sowjetunion mischte er an vorderster Stelle mit. Als Russlands erster Präsident, Boris Jelzin, den Jungpolitiker in das hochindustrialisierte Verwaltungsgebiet Nischni Nowgorod schickte, avancierte der smarte Junge über Nacht zum Shooting Star.
Ehemalige sozialistische Musterbetriebe der Rüstungsindustrie und nukleare Forschungseinrichtungen standen vor dem Bankrott. Nemzow verwandelte Nischni in ein Experimentierfeld für angewandte Wirtschaftsreformen. Wer als Reformer etwas auf sich hielt, nutzte die Aufgeschlossenheit des jungen Gouverneurs und zog nach Nischni. Längst nicht alles gelang. „Als Gouverneur war ich eigentlich noch ein Kind“, sagte er später mit einer Prise Selbstkritik. Hunderte Arbeiter, die monatelang keinen Lohn erhalten hatten, belagerten sein Büro. Dennoch wurde der Gouverneur 1995 in freien Wahlen wiedergewählt.
Der forsche Politiker lebte mit Frau und Tochter in einer bescheidenen Wohnung. Er war beliebt und sorgte mit ungewöhnlichen Methoden für Ordnung, aber immer auch wieder für Unterhaltung. Nahm er zum Beispiel den Bau einer Straße ab, ließ er auf der Haube eines Wagens ein Wodkaglas befestigen. War dies nach der Probefahrt leer, blieb das nicht ohne Folgen.
Musterschüler mit lausbubenhaftem Charme
Etwas Lausbubenhaftes, Draufgängerisches strahlte er bis zum Schluss aus. Dabei war er ein Musterschüler, der Schule und Universität mit Auszeichnung absolviert hatte. Nach dem Mathematik- und Physikstudium promovierte er in Plasmaphysik und arbeitete an der Entwicklung des sowjetischen Gegenprogramms zur lasergestützten US-Vision des „Kriegs der Sterne“ mit. „Geld war damals schon knapp, wir fanden eine grobe, typisch sowjetische Antwort“, erinnerte er sich lachend.
„Im All sollte eine Nuklearexplosion die Laser durch magnetischen Staub irreleiten und die Sensoren lahmlegen. Eine Stunde hätte gereicht, um eine Rakete auf New York abzuschießen.“ Als das ruchbar wurde, soll US-Präsident Ronald Reagan die Star-Wars-Vision kleinlaut ad acta gelegt haben.
Nemzow war theoretischer Physiker, kein Gesellschaftstheoretiker, eher ein Freidenker, der fest daran glaubte, Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechte hätten auch in Russland Zukunft. „Nicht jeder in Russland ist käuflich. Die herrschende Kaste begreift das nicht, weil Putin sogar Gerhard Schröder einkaufen konnte.“
Nachdenklich setzte Nemzow nach: „Sie verachten das Volk und reden ihm ein, es könne sich nicht selbst regieren“. Als Jelzins Generäle in Tschetschenien 1995 Krieg führten, sammelte Gouverneur Nemzow in Nischni eine Million Unterschriften gegen den Feldzug und schickte sie in den Kreml. „Großvater“, so nannte er Jelzin, sei erbost gewesen. „Wochen später nahm er mich trotzdem mit nach Tschetschenien. Er signalisierte Friedensbereitschaft und gestand den Fehler ein.“ Allein das sei ein entscheidender Unterschied zur Ära Putin.
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