Pop-Zwillinge Kerstin und Sandra Grether: „Leute haben Angst vor uns“

Die Popfeministinnen Kerstin und Sandra Grether sprechen über Abstürze auf Absinth, nervige Zwillingsklischees und ihre Rolle als „Stehaufweibchen“.

Kerstin (l.) und Sandra Grether in feinem Dress im Volkspark Friedrichshain. Bild: Miguel Lopes

taz: Beim Lesen Ihres neuen Buchs, Kerstin, bin ich über das Wort „Stehaufweibchen“ gestolpert – ist das eine Beschreibung, die auch auf Sie beide zutrifft?

Kerstin Grether (KG): Vielleicht schon. Ein Motto von uns ist: Geht nicht gibt’s nicht.

Sandra Grether (SG): Zum Beispiel finden wir es blöd, wenn man Visionen oder Berufswünsche unterdrückt, also zum Beispiel sagt: Jetzt mache ich doch schon Musik, da muss ich nicht zusätzlich noch als Autorin arbeiten.

KG: Und es ist schwierig, sich als Künstlerin zu behaupten, immer wieder neu. In dem Sinne sind wir auch Stehaufweibchen.

Sie haben ja auch beide keinen einfachen Lebenslauf gewählt.

SG: Wenn man sich für ein Leben als Künstler entscheidet, dann muss man auch mit allen Konsequenzen leben.

KG: Wir kommen aus einer weißen, bürgerlichen Mittelschichtsfamilie, da hätte man sicherlich einen einfacheren Weg gehen können.

Sie sind beide Autorinnen, Musikerinnen, Aktivistinnen. Woher kommt der Wille, sich egal in welcher Form künstlerisch und politisch ausdrücken zu wollen?

Kerstin Grether, 38, ist Schriftstellerin, Journalistin und Musikerin. Seit den 90ern schreibt sie für die Musikzeitschrift Spex. 2004 erschien ihr Romandebüt „Zuckerbabys“, 2007 die Pop-Anthologie „Zungenkuß. Du nennst es Kosmetik, ich nenn es Rock 'n' Roll.“

Sandra Grether ist 25 Minuten älter als Kerstin. Sie ist Gitarristin, Autorin, Journalistin, Ex-Managerin ihrer Schwester und Songwriterin der gemeinsamen Band Doctorella.

Beide gelten als die ersten und wichtigsten Vertreterinnen des Popfeminismus in Deutschland. Die in einem Dorf in der Nähe von Heidelberg aufgewachsenen Zwillinge engagierten sich etwa bei der Kampagne „pinkstinks“, gegen das Barbie Dreamhouse in Mitte und koorganisierten den „Slutwalk“, eine Demonstration gegen körperliche Übergriffe auf Frauen und deren Verharmlosung. Gemeinsam gaben sie 2008 den Pop-Sammelband „Madonna und wir“ heraus.

SG: Ich hab mit zehn Jahren meine erste Gitarre bekommen, von dem Moment an war klar: Okay, darum geht’s jetzt also im Leben, dass man sich kreativ ausdrückt.

KG: Ich habe als Teen irgendwann angefangen, über Konzerte zu schreiben. Die Texte, die dabei herausgekommen sind, haben mich dann selbst überrascht. Also, dass da auch viele unbewusste Dinge drinstanden. Es hat mich gleichzeitig erschreckt und aufgewühlt. Ich wurde dann sehr schnell süchtig danach, Texte zu schreiben. Kurz darauf fing ich an, für die Spex [Musikzeitung, d. Red.] zu schreiben.

Seither schreiben Sie, Kerstin, durchgehend?

KG: Ja, ich schreibe eigentlich immer zwei, drei Stunden täglich, irgendwas. Seit 2004 mein erster Roman „Zuckerbabys“ erschienen ist, habe ich so etwa 300 Tagebücher vollgeschrieben. Und daraus auch den neuen Roman, „Einen Tag für rote Schuhe“, entwickelt.

Und Sie, Sandra, spielen Sie immer zwei bis drei Stunden Gitarre am Tag?

SG: Ich arbeite zumindest immer gerade an einem Song – auch wenn nicht jeder Song dann auch aufgenommen wird.

Nur in den bildenden Künsten halten Sie sich zurück.

KG: Wir können’s einfach nicht. Und wir machen nur Sachen, die wir auch wirklich können.

Sie haben etwa erfolgreich, mit anderen Stehaufweibchen zusammen, die feministische Protestbewegung Slutwalk nach Deutschland geholt.

KG: Es waren auch Stehaufmännchen dabei! Als ich im Frühjahr 2011 erfahren habe, dass es diese Slutwalk-Bewegung in Kanada gibt, habe ich mich sofort dafür eingesetzt. Auch wenn wir nicht wussten, wie die Öffentlichkeit hier darauf reagieren wird.

SG: Beim ersten Treffen zum Slutwalk kamen 30, 40 Frauen und es war plötzlich auch eine tolle Aufbruchsstimmung da. Was mich motivierte: dass mal all die komplizierten Schuldzuweisungen, die im Falle von sexualisierter Gewalt sofort im Raum stehen, als gesellschaftliches und juristisches Übel benannt wurden. Zum Beispiel: „Du bist selber schuld, wenn du einen kurzen Rock oder ein enges T-Shirt trägst und dich dann einer überfällt.“ Nee, bin ich nicht. Schuld ist immer der Täter.

KG: Ich denke, das war die erste popfeministische Demonstration in Deutschland – die stand auch in der Tradition von Riot Grrrl [der Punk-feministischen US-Bewegung Anfang der 90er Jahre, d. Red.]. Es war gleichzeitig auch eine kunstvolle Aufführung – das hatte es so vorher noch nicht gegeben. Text und Bildaussage widersprechen sich, und genau das hat den Kick ausgemacht. Also, wir liefen da teilweise sehr pornomäßig rum und trugen gleichzeitig Schilder wie „Mein heißer Körper gehört mir“ oder „Mein kurzer Rock hat nichts zu tun mit Dir.“ Man hatte sich dabei ertappt, die Selbstermächtigung über den eigenen Körper zu verlieren in einer Kultur, in der so stark pornografisiert wird.

Und darauf wollten Sie mit drastischen Ausdrucksformen aufmerksam machen?

SG: Ja, eine Zeit lang war Drastik ein Mittel, um sich mit so einem unangenehmen Thema wie sexualisierter Gewalt aus Betroffenenperspektive Gehör zu verschaffen – mittlerweile aber gibt es ja in Berlin keinen Slutwalk mehr. Es gab die berechtigte Kritik, dass die Emanzipation einiger nicht auf Kosten anderer gehen dürfe. Und wenn so viele keinen Bock mehr haben, sich das Wort Slut, Schlampe, wiederanzueignen, muss man sich halt was anderes überlegen, um auf die Thematik aufmerksam zu machen.

KG: Drastik birgt immer die Gefahr, irgendwann in sein Gegenteil umzukippen und nicht mehr seinem eigentlichen Ziel zu dienen. Aber die Slutwalk-Bewegung war wichtig, sie hat zum Beispiel den #aufschrei vorbereitet und ein Klima geschaffen, in dem über sexualisierte Gewalterfahrungen öffentlich gesprochen werden konnte. Jenseits der üblichen Klischees.

Fiel es Ihnen dadurch einfacher, in Ihrem neuen Roman, „An einem Tag für rote Schuhe“, das Thema sexuelle Gewalt zu thematisieren?

KG: Als ich mit den Arbeiten am Buch begann, sollte es eigentlich von einer Außenseiterin handeln, die auf dem Schulhof gemobbt wird. Außerdem wollte ich parallel dazu die Geschichte einer Sängerin erzählen. Aber dann begriff ich plötzlich, dass „Slut Shaming“ [Frauen wegen ihres sexuellen Verhaltens oder ihrer Art, sich anzuziehen, Schamgefühle einreden, d. R.] auch eine Form von Mobbing ist. Nun konnte ich dieses schwere Thema plötzlich miterzählen.

Mir ist aufgefallen ist, dass das Buch nicht in pauschale Männerfeindlichkeit abdriftet. Die Erzählung kommt immer noch humorvoll und auch nicht lustfeindlich rüber.

SG: Wir nennen uns ja auch Rock-’n’-Roll-Feministinnen. (lacht)

KG: Das Thematisieren von Gewalt gegen Frauen, Homo- und Transsexuellen hat ja generell nichts mit Männerfeindlichkeit zu tun. Ich wollte gleichzeitig auch die Gegengeschichte zu all dem Scheiß aufschreiben: Eine schöne Geschichte von Mut, Zusammenhalt, Rock ’n’ Roll und Freundschaft. Es sollte ein humorvolles Buch werden, ohne zu verharmlosen. Diese „Trinkteufel“-Stelle etwa am Anfang. Die Leser sollten erst mal durch die Feier- und schönen Knutschszenen hindurch, bevor es beklemmend wird.

Ist diese Szene in der Kreuzberger Kneipe „Trinkteufel“ eigentlich wirklich passiert?

SG: Ja, es gab einen denkwürdigen Abend im „Trinkteufel“. Aber keine Szene in Kerstins Roman hat sich wirklich so zugetragen.

Was ist passiert an dem Abend?

SG: Ich habe da Absinth getrunken und wusste nicht, dass es Absinth ist. Ich bin später auf den Tisch gestiegen und hab eine Rede über Feminismus, Pussy Riot und Punk gehalten. Aber ernsthaft: Letztendlich geht es beim Feminismus doch um was sehr Einfaches: Wir wollen einfach die gleichen Rechte, natürlich auch Pflichten, wie Männer. That’s it.

Was kritisieren Sie an Jungscliquen, wie zum Beispiel am männerdominierten Musikbusiness?

KG: Oft ist es auch so, dass Frauen Frauen verhindern. Ganz schlimm sind zum Beispiel die Freundinnen und Ehefrauen von Labelmachern, einflussreichen Musikern oder Veranstaltern. Die es einfach nicht ertragen, dass coole Musikerinnen sich in ihrem Umfeld bewegen. Unsere Band, Doctorella, ist von männlichen Entscheidungsträgern durchgewunken worden.

Andererseits: Da ist Beth Ditto, eine Frau, die keinem Schönheitsideal entspricht und die trotzdem Erfolg hat, und eine omnipräsente Lady Gaga – ist doch alles super, was den Feminismus im Pop angeht.

SG: Es gab immer diese Ausnahmefrauen. Die Denke dahinter ist aber: Jetzt haben wir zwei Frauen und es ist alles in Ordnung. Das ist so, als ob es reiche, eine Bundeskanzlerin zu haben und in Sachen Feminismus ist alles top. Aber die beiden sind natürlich gute Role Models.

Es gab doch bereits so viele feministische Strömungen. Warum braucht es denn überhaupt noch einen spezifischen Pop-Feminismus?

KG: Pop-Feminismus wurde nötig, weil Feminismus und Pop immer als Gegensatz gesehen wurde. Es wurde immer behauptet, Frauen wären doch im Pop schon so frei und würden sich austoben, da brauche es doch gar keine Frauenbewegung mehr. Gleichzeitig gab es schon immer eine Tendenz im Feminismus, zu sagen, dass es die Frauen im Pop vielleicht auch ein bisschen übertreiben mit High Heels, Schminken und so weiter. Daher fand ich es wichtig, Pop und Feminismus zusammenzubringen.

Sie, Sandra, managen Ihre Zwillingschwester. Sie spielen zusammen in einer Band. Es gibt Sie auch noch als Autorinnenpaar. Wohnen Sie etwa auch noch zusammen?

KG: Typisches Zwillingsklischee! Wenn die Einlinge uns einmal zusammen sehen, vergessen sie die 15 Male, die sie einen allein gesehen haben! Wir wohnen seit ein paar Jahren im selben Mietshaus, aber in verschiedenen Wohnungen.

SG: Es gibt uns überhaupt nicht immer nur im Doppelpack. Ich habe jahrelang in Hamburg gelebt und dort meine erste Band gegründet, Parole Trixi. Kerstin hat in der Zwischenzeit in Berlin gewohnt und zwei Bücher veröffentlicht. Gemanagt habe ich sie nur am Anfang. Wir sind auch kein Autorinnenpaar. Wir haben von Anfang an jeweils eigene Artikel geschrieben. Nur für die Spex schreiben wir zusammen, weil wir das lustig finden. Die in der Redaktion sagen, Grether & Grether, das klingt wie ein Detektivbüro.

Dennoch, Sie haben ein recht enges Verhältnis. Wie funktioniert das?

KG: Wir beide hatten schon unsere eigene Identität entwickelt, als wir anfingen, eine gemeinsame Band zu machen. Ich hatte eigentlich immer ein sehr starkes Ich-Gefühl, also ich wusste immer ganz genau, wo ich aufhöre und wo sie beginnt. Die ersten zwei Monate unseres Lebens waren wir übrigens gar nicht zusammen, weil ich da noch krank im Krankenhaus lag. Ich erinnere mich aus meiner Kinderzeit sehr deutlich an das Gefühl, irgendwo zu sein, und da sitzt immer noch ein freches, lautes Mädchen daneben. Da hüpfte immer was Quirliges, Lebendiges neben mir rum, während ich so fragend in die Welt schaute und etwas zerbrechlich war.

SG: Wir hatten auch nie dieselben Klamotten. Ich war 25 Minuten älter und blieb dann immer „die Ältere“ oder die „große Schwester“.

Haben Sie sich mal mit Zwillingsforschung beschäftigt?

SG: Ich habe mich eher mit den gesellschaftlichen Bedingungen des Zwillingsseins beschäftigt. Und die ist leider stark davon geprägt, dass Leute aufgrund der Zwillingsforschung und dieser ganzen dummen Mythen, die es gibt, glauben, Zwillinge seien identisch.

KG: Die Gesellschaft sieht Zwillinge als etwas Besonderes und bekämpft dann die Symptome dieses besonderen Zustands. Weil Zwillinge angeblich die Idee von der Einzigartigkeit des Individuums durchkreuzen, werden sie zu Außenseitern gemacht und gleichzeitig bestaunt. In „Ein Tag für rote Schuhe“ kommt das Zwillingsthema auch vor – aber das große Zwillingsbuch steht noch aus.

Sie sind starke Charaktere, die auch noch als Duo daherkommen. Gibt es KollegInnen, die Angst vor Ihnen haben oder sagen: „Scheiße, die Schwestern“?

KG: Es gibt Leute, die Angst vor uns haben.

SG: Viele denken vielleicht erst mal: Ah, die Gretherinnen, das wird jetzt lustig. Die wollen halt immer Party mit uns machen, oder unsere Unterstützung. Aus dieser Rolle wollten wir irgendwann raus. Wir sind auch von vielen enttäuscht worden, denen wir mit unserem – tatsächlich zwillingsgeprägten – Verständnis von Solidarität geholfen haben.

Sie eröffnen demnächst eine Musikschule in Wedding und Prenzlauer Berg, wo Sie auch wohnen. Warum eine Musikschule?

KG: Sie heißt Songstärke10. „Vom Handwerk zum Kunstwerk“ nennt sich das Programm. Es gibt da aber auch Performance-Unterricht und Kunstunterricht. Wir wollen damit eigentlich den Urzustand des Pop wiederherstellen, der verloren gegangen ist. Den Kids beibringen, dass Pop halt mehr ist als nur ein Handwerk oder Sting zu singen, wie Diedrich Diederichsen das in seinem Buch „Über Pop-Musik“ auch hervorragend beschreibt.

Lernen, um es wieder zu verlernen.

KG: Genau.

Ist Prenzlauer Berg überhaupt noch der richtige Kiez für Sie, ist es dort nicht längst viel zu langweilig?

SG: Ich find das schön hier, ich hör gerne Kinder schreien. Die Leute sind alle extrem mit sich selbst und ihren Kindern beschäftigt. Das wird ja viel kritisiert, ich find das total super. Bitte interessiert euch nicht für mich! (lacht)

KG: Wir sind hier noch nie aufgefallen.

SG: Das glaubst du!

KG: Wir haben über die glücklichen Eltern hier auch einen Song geschrieben: „Oh ihr jungen Paare / in Euren besten Jahren / ich bin Euer Publikum / ich bewundere Euch stumm / wie ihr das alles hinkriegt / während mir die Liebe wegfliegt / (nun beide singend) ich wär so gerne Euer Kind / dann würd ich sagen: alles stimmt!“.

In diesen Tagen veröffentlicht Kerstin Grether ihren neuen Roman „An einem Tag für rote Schuhe“ (Ventil Verlag, 368 Seiten, 16,90 Euro). Am 18. Juni liest sie daraus im Kaffee Burger, Torstr. 60, Mitte. Beginn: 21.30 Uhr.

SG: Oder auch: „Ich sitz im Café ganz hinten / keiner wird mich finden / und sollt ich mal ’ne Revolution ausrufen / hier wird mich keiner suchen“.

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