Polnische Regierung wehrt sich: EuGH gegen Polen gegen EuGH
Der EU-Gerichtshof beanstandet erstmals ausdrücklich die polnische Justizreform. Das polnische Verfassungsgericht erklärt den EuGH für unzuständig.
Seit 2015 regiert in Polen die nationalkonservative Partei PiS und versucht, die bis dahin unabhängige Justiz unter ihre Kontrolle zu bringen. Eines der wichtigsten Instrumente ist die Disziplinarkammer am Obersten Gericht, die 2017 eingerichtet wurde. Sie ist direkt zuständig für Disziplinarverfahren gegen Richter:innen an diesem Gericht und als Berufungsinstanz für Disziplinarverfahren gegen alle übrigen polnischen Richter:innen.
Im Oktober 2019 hat die EU-Kommission wegen dieser Disziplinarkammer ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen eingeleitet. Der EuGH bestätigte nun die Kritik der EU-Kommission im vollen Umfang. Das Urteil kam nicht überraschend. Schon im April 2020 hatte der EuGH Polen in einer einstweiligen Verfügung aufgefordert, die Arbeit der Disziplinarkommission auszusetzen.
Der EuGH beanstandet zum einen, dass die Disziplinarkammer nicht genug Garantien für Unabhängigkeit und Unparteilichkeit biete. Grund dafür sei vor allem, dass die Mitglieder dieser Kammer vom Landesjustizrat KRS bestimmt werden, der seit 2017 auch unter Kontrolle der Regierungsmehrheit steht. Die Unabhängigkeit des KRS könne Anlass zu „berechtigten Zweifeln“ geben, heißt es im Urteil. Damit hat der EuGH neben der Disziplinarkammer implizit auch die Rechtsstaatlichkeit des Landesjustizrats in Frage gestellt.
EuGH verweist auf Gesamtkontext
Der EuGH beanstandete zudem, dass auch der Inhalt von Gerichtsentscheidungen zu Disziplinarverfahren führen kann. Die Disziplinarkammer könne daher „zur politischen Kontrolle von Gerichtsentscheidungen oder zur Ausübung von Druck auf Richter eingesetzt werden“. Sogar die Vorlage eines Verfahrens an den EuGH könne ein Disziplinarverfahren auslösen.
Polen hatte sich mit dem Verweis auf andere EU-Staaten verteidigt, die ähnliche Regeln kennen. Der EuGH verwies dagegen auf den „Gesamtkontext“ in Polen. Gemeint ist wohl die feindselige Haltung der PiS gegenüber den früher ernannten Richter:innen, die permanent delegitimiert und als „Kaste“ bezeichnet werden.
Mit diesem Urteil hat der EuGH erstmals ein Element der polnischen Justizreform ausdrücklich als Verstoß gegen EU-Recht beanstandet. Bisher hatte der EuGH nur Maßstäbe benannt und den (noch unabhängigen) polnischen Gerichten die Anwendung der Maßstäbe überlassen. Auf dieser Basis entschied das Oberste Gericht Polens im Dezember 2019 und im Januar 2020, dass die Disziplinarkammer kein unabhängiges Gericht ist – weder nach EU-Recht noch nach polnischem Recht.
Koloniales Denken
Nach dem aktuellen EuGH-Urteil ist Polen nun verpflichtet, die Beanstandung abzustellen. Damit ist derzeit aber wohl nicht zu rechnen. Polens Justizminister Zbigniew Ziobro sagte, hinter dem EuGH-Urteil stehe koloniales Denken und eine Trennung der EU-Mitgliedstaaten in bessere und schlechtere.
Um Polen zum Einlenken zu bewegen, müsste die EU-Kommission ein neues Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Dabei könnte der EuGH – auch per Eilverfügung – hohe tägliche Zwangsgelder gegen Polen verhängen.
Der Streit um die Disziplinarkammer ist nur eine Facette des Konflikts zwischen Polen und der EU. Im Zuge der Justizreform hatte die PiS-Regierung bereits das polnische Verfassungsgericht auf Linie gebracht. Im Februar 2020 war zudem das so genannte Maulkorbgesetz in Kraft getreten, das es polnischen Gerichten verbietet, die richterliche Unabhängigkeit anderer polnischer Gerichte zu prüfen und eine Vorabentscheidung des EuGH zu beantragen. Gegen dieses Maulkorbgesetz hat die EU-Kommission im März 2021 ebenfalls ein Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, über das der EuGH noch nicht entschieden hat.
Gleichzeitig versucht die PiS-Regierung, sich mithilfe des nun von ihr kontrollierten polnischen Verfassungsgerichts gegen die Vorgaben des EuGH zu immunisieren. Am Mittwochnachmittag entschied das polnische Verfassungsgericht, dass Polen nicht verpflichtet sei, einstweilige Maßnahmen des EuGH zur Sicherung der Rechtsstaatlichkeit zu beachten, denn der EuGH sei nicht zur Kontrolle nationaler Justizsysteme befugt.
Am Donnerstag war ein weiteres Urteil des polnischen Verfassungsgerichts erwartet worden, wonach der Vorrang des EU-Rechts gegen die polnische Verfassung verstoße. Dieses Urteil wurde inzwischen auf Montag verschoben. Sollte das polnische Verfassungsgericht den Vorrang des EU-Rechts ablehnen, müsste die EU-Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Ein solches wurde bereits gegen das deutsche Verfassungsgericht eröffnet.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“