Polizeiskandal in Belgien: Kabelbinder und Hitlergruß
Ein renitenter Fluggast kommt in Gewahrsam. Die Polizei stellt ihn mit brutalen Mitteln ruhig. Vier Tage später wird Jozef Chovanec für tot erklärt.
Nicht alle EU-Parlamentarier werden den Fall kennen. In Belgien allerdings schlägt der ungeklärte Tod von Jozef Chovanec hohe Wellen.
Am 23. Februar 2018 liegt der slowakische Bürger auf dem kalten Asphalt des Flughafens von Charleroi. Fünf Polizisten fixieren ihn, weitere stehen bereit. Es ist früher Abend, Videoaufnahmen zeigen noch einen Streifen Dämmerung am Horizont. Chovanec ist 38 Jahre alt, verheiratet, hat eine kleine Tochter und besitzt eine Firma, die Leiharbeiter aus seinem Herkunftsland auf belgische Baustellen vermittelt. Eigentlich soll Chovanec gleich abheben, in Richtung der slowakischen Hauptstadt Bratislava, wohin er regelmäßig pendelt. Doch man holte ihn aus dem Flugzeug, kaum dass er sich hingesetzt hatte. Ein Mitreisender wird später sagen, Chovanec habe aggressiv gewirkt.
Mit dem Kopf gegen die Wand
Andere beschreiben sein Verhalten am Flughafen als verwirrt. Ann Van de Steen, die Anwältin seiner Frau Henrieta, berichtet, Jozef Chovanec habe an psychischen Problemen gelitten und Medikamente wegen einer Schilddrüsenfehlfunktion benötigt. In angespanntem, gestresstem Zustand habe er seine Jacke mit Bordkarte und Pass versehentlich im Wartebereich hängen lassen. Man habe ihn auf dem Flughafen von Beginn an als Randalierer behandelt und nicht wie jemanden, der Hilfe brauche, beklagt sie.
Hilfe bekommt Jozef Chovanec in dieser Nacht nicht. Er verbringt sie in einer Polizeizelle, wo sich sein Zustand offenbar verschlechtert. Aufnahmen aus einer Überwachungskamera in Schwarz-Weiß zeigen, dass er um 4:24 Uhr damit beginnt, mit dem Kopf gegen die Wand seiner Zelle zu schlagen. Er sinkt auf den Boden, steht wieder auf und tänzelt neben seiner Pritsche nervös auf der Stelle. Als das Licht angeht, sitzt er auf der Pritsche. Man sieht nun, dass Chovanec’ weißes T- Shirt von Blut verschmiert ist. Erneut schlägt er den Kopf gegen die Wand, sein Gesicht ist jetzt blutüberströmt.
Um kurz nach halb fünf betreten Polizisten seine Zelle. Auch mit ihrem Plastikschild kostet es offenbar einige Mühe, den sich wehrenden kräftigen Mann unter Kontrolle zu bekommen. Sie fixieren seine Hände und Füße mit Kabelbindern und drücken ihn auf die Liege. Jozef Chovanec wirkt den Bildern der Überwachungskamera zufolge zu diesem Zeitpunkt ruhig. Als man seinen Körper über die Liege schiebt, erscheint dieser fast steif. Um viertel vor fünf Uhr morgens ziehen die Polizisten eine schäbige blaue Decke über Chovanec und wickeln sie stramm um seinen Kopf und Oberkörper. Dann setzt sich einer der Beamten mit seinem vollem Gewicht auf ihn, vier andere stützen ihn und pressen Jozef Chovanec auf die Liege. Erst jetzt beginnt sich Chovanec unter der Decke zu winden. Zwei weitere Beamte kommen als Verstärkung hinzu.
Gewalt in der Zelle, Spaß der Beamten
Während die einen Polizisten Chovanec fixieren, scheinen sich andere Beamte bestens zu amüsieren. Auf dem Video ist zu sehen, wie einer grinsend mit Zeige- und kleinem Finger ein Teufelszeichen macht. Der Kollege, der zuvor auf Chovanec kniete, lacht breit. Eine Beamtin mit blondem Pferdeschwanz nimmt Haltung an, reckt den Arm zum Hitlergruß und deutet dabei mit zwei Fingern über der Lippe einen Stummelbart an. Ein Polizeibeamter begründet diese Geste später damit, dass Chovanec Deutsch „oder eine Sprache, die dem ähnelt“ gesprochen habe, und die Polizisten damit an Deutsche in Louis-de-Funès- Filmen erinnert habe.
Um 5.06 Uhr sieht man gelb gekleidete Sanitäter in der Zelle. Der Griff wird gelockert, Jozef Chovanec bekommt ein Beruhigungsmittel gespritzt. Als sich kurz danach herausstellt, dass er keinen Herzschlag mehr hat, dreht man ihn auf den Rücken, zieht sein blutiges T- Shirt hoch und reanimiert ihn. Chovanec wird in ein Krankenhaus in Charleroi gebracht. Dort wird vier Tage später, am 27. Februar 2018, sein Tod festgestellt.
Seine Witwe, Henrieta Chovanec, vermutet, dass ihr Mann schon in der Zelle am Flughafen gestorben ist. Mehr als zwei Jahre nach dem Tod ihres Mannes, Ende August 2020, beschließt die Witwe, die Aufzeichnungen aus der Überwachungskamera, die ihr von den Behörden zugänglich gemacht worden waren, an die Öffentlichkeit zu bringen. Zu lange hat sie auf eine Rekonstruktion des Falls gedrängt, zu groß sind die Fragezeichen hinter dem, was sie umtreibt: Warum dauerte es nach der Festnahme beinahe vier Stunden, bis ein Arzt bei Jozef Chovanec erschien? Warum stellte dieser ohne eingehende Untersuchung ihres Mannes ein Attest aus, das den Arrest ermöglichte? Warum kamen die Sanitäter so spät, und wie konnte eine von ihnen sagen, man werde Chovanec eine Dosis verabreichen, und wenn man ihn verlöre, wäre das „kein großer Verlust“?
Schockwellen in Belgien
Die Videobilder lösen Schockwellen in Belgien aus. Täglich warten Medien mit neuen Details auf, die neben den gewaltsamen Umständen von Jozef Chovanec’ Tod auch dessen Behandlung seitens der belgischen Justiz und Politik betreffen.
Der Polizeibericht etwa geht präzise darauf ein, wie der Mann sich am Flughafen heftig gegen seine Festnahme wehrte. Die Vorgänge in der Zelle aber werden weit weniger detailliert beschrieben. Kein Wort davon, dass Chovanec’ Kopf in eine Decke gewickelt war und dass ein Beamter 16 Minuten lang auf seiner Brust saß. Ein zweiter Bericht taucht auf, der mehr ins Detail geht.
Die öffentliche Empörung führt zu zwei Rücktritten: Zuerst muss André Desenfants, Vize-Chef der Föderalen Polizei, seinen Hut nehmen. Er hatte sich darüber beklagt, dass er nicht über das Auftreten der Beamten informiert worden sei. Es folgt der Direktor der Flughafenpolizei, Danny Elst. Auch Jan Jambon, heute Ministerpräsident der Region Flandern und im Jahr 2018 Innenminister, gerät unter Druck. Ende August lässt er wissen, man habe ihn „nie, mit keinem Wort“ über den Fall Chovanec unterrichtet – um wenig später zuzugeben, schon im Jahr 2018 deshalb den slowakischen Botschafter Stanislav Vallo getroffen zu haben. Weil er sehr beschäftigt gewesen sei, habe er sich aber nicht an das Gespräch erinnern können, verteidigt sich Jambon.
Henrieta Chovanec’ Anwältin Ann Van de Steen berichtet am Telefon von dem „Horror“, den sie empfand, als sie erstmals die Videoaufnahmen sah. Dass diese sie an Zustände in einem Kriegsgebiet denken ließen, dass sie Belgiens unwürdig seien und ihrem Glauben an den Rechtsstaat einen Dämpfer versetzt hätten.
Ann Van de Steen, Anwältin
Für die zuständige Staatsanwaltschaft in Mons ist es bis heute nicht erwiesen, dass der gewaltsame Polizeieinsatz die Ursache für Chovanec’ Tod ist. „Wahnsinn“, kommentiert Ann Van de Steen. Auch dass die gerichtliche Untersuchung zu Jahresbeginn schon abgeschlossen werden sollte, empört sie. „Dank der großen Aufmerksamkeit hoffe ich nun, dass wir Anfang 2021 wissen, was die Todesursache war“, sagt Van de Steen.
An den Ermittlungen beteiligt wird künftig auch ein medizinischer Sachverständiger aus Chovanec’ Heimatland – auf Initiative der slowakischen Präsidentin Zuzana Čaputová. Um das Ansehen Belgiens ist es in der Slowakei ziemlich schlecht bestellt.
Aus diesem Grund hat der hohe Justizrat, der das Funktionieren der belgischen Justizorgane sicherstellt, eigene Ermittlungen angekündigt. Noch nie ist dies in einem noch nicht abgeschlossenen Fall angeordnet worden – ein Indiz für die Sprengkraft, die die Angelegenheit inzwischen hat. Christian Denoyelle, der Vorsitzende, begründete das Vorgehen mit „Spekulationen“ über ein organisiertes Vertuschen der Details. Die internationale Reputation Belgiens, von Justizskandalen ohnehin befleckt, steht auf dem Spiel.
Unter Druck steht in diesen Wochen freilich auch die slowakische Regierung. Anfang September hatte ein slowakisches Gericht den Angeklagten im Mordfall des Investigativjounalisten Jan Kuciak freigesprochen. Einen Tag zuvor forderte das Parlament in Bratislava, dass die EU sich der Sache annehme. Zuständig wäre dafür ein Belgier: Justizkommissar Didier Reynders, der im Februar 2018 zufälligerweise Außenminister war.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen