Polizeiexperte über Umgang mit psychisch Kranken: „Eine fatale Fehleinschätzung“
Martin Thüne ist Polizeiwissenschaftler in Thüringen. Dort forscht er zum Umgang der Polizei mit psychisch Kranken.
taz: Herr Thüne, immer wieder kommen Menschen in psychischen Ausnahmesituationen bei Polizeieinsätzen ums Leben. Im August gleich zweimal innerhalb einer Woche, in Köln und in Dortmund, Anfang September in Leipzig. Ist die Polizei ausreichend ausgebildet, um mit psychisch kranken Menschen umzugehen?
Martin Thüne: Es gibt nach wie vor Bereiche in der Polizei, in denen der Umgang mit Menschen, die sich in einer akuten psychischen Notsituation befinden, keine oder nur eine geringe Rolle in der Aus- und insbesondere in der Fortbildung spielt. Das ist aber von Bundesland zu Bundesland sehr unterschiedlich. Da sind wir schon bei einem Teil des Problems: Wir haben keine gute Übersicht, wo dazu was konkret vermittelt wird.
34, ist Wissenschaftler an der Thüringer Fachhochschule für öffentliche Verwaltung und forscht zum Umgang der Polizei mit psychisch Kranken.
Das ist ein erhebliches Problem, weil das ein Thema ist, mit dem die Polizei regelmäßig zu tun hat. Einsätze mit psychisch Kranken werden von Polizist:innen als belastend und schwierig empfunden, weil diese Einsätze häufig länger dauern, weil sie kompliziert sind und weil sie gefährlich sein können. Beispiele zeigen immer wieder deutlich, dass es dabei manchmal um Leben und Tod geht.
Wie oft sind psychisch kranke Menschen in tödliche Polizeieinsätze verwickelt?
Es gibt keine absolut verlässlichen Zahlen, sondern nur Näherungswerte. Aber man kann davon ausgehen, dass bei einem Großteil der Einsätze, in deren Verlauf von der Polizei Schusswaffen eingesetzt werden und aus denen schwere oder tödliche Verletzungen resultieren, Menschen mit psychischen Störungen involviert sind. Gleiches gilt für Einsätze, bei denen Beamte und Beamtinnen erheblich bedroht oder verletzt werden. Bis heute ist dieses Wissen aber gar nicht richtig verbreitet, weder in Gesellschaft und Politik noch in der Polizei – weil man sich zu wenig damit auseinandersetzt.
Welchen Stellenwert hat das Thema in der Ausbildung?
Ob das überhaupt thematisiert wird, hängt meiner Erfahrung nach oft von einzelnen Dozent:innen ab, die sich für das Thema interessieren und es in ihre Seminare aufnehmen. Ich höre mich regelmäßig bundesweit um und kann leider keine Struktur oder übergreifende Systematik erkennen. Auch bei der Ausbildung von Führungskräften taucht der professionelle Umgang mit solchen spezifischen Situationen, in denen psychische Erkrankungen eine Rolle spielen, so gut wie nicht auf.
Wieso ändert sich das nicht, wenn der Umgang mit psychisch Kranken so schwierig und belastend ist?
Im Nachgang zu solchen Fällen wie zum Beispiel in Dortmund werden die Innenminister und Polizeipräsidien immer gefragt: „Machen Sie denn diesbezüglich was?“ Da kommt dann häufig die Antwort: „Ja, natürlich, das ist Teil des Einsatztrainings und der Schießausbildung.“ Das stimmt zwar, aber nur bei oberflächlicher Betrachtung. Es geht darum, sich ausdrücklich mit psychischen Störungen auseinanderzusetzen. Über welche Störungen sprechen wir da – und über welche eher nicht? Welchen Krankheiten begegnet man im Rahmen der klassischen Polizeiarbeit besonders häufig? Habe ich „als Laie“ eine Chance zu erkennen, dass jemand gerade einen psychotischen Schub hat, und wenn ja, woran erkennt man das? Wann lohnt es sich abzuwarten und wann muss ich eingreifen? Diese speziellen Aspekte stehen in der polizeilichen Aus- und Fortbildung viel zu selten im Programm.
Bietet die Polizei Fortbildungen an?
Das ist gar nicht so einfach. Während es im Bereich der Ausbildung gerade in den letzten Jahren Fortschritte gibt, muss man sich vergegenwärtigen, dass der zahlenmäßig viel größere Teil der Polizisten fertig ausgebildet im Dienst ist. Da sprechen wir schätzungsweise von einer sechsstelligen Zahl an Beamten bundesweit, die in großen Teilen „nachgeschult“ werden müssten. Das ist ein erheblicher Personal- und Kostenaufwand. Ich bezweifle schwer, dass die Ressourcen dafür bereitgestellt werden. Auch deshalb, weil man sich der Relevanz dieses Themas oft nicht bewusst ist. Das ist eine fatale Fehleinschätzung, gerade auch mit Blick auf die Einsatzkräfte selbst. Die Fortbildungen, die angeboten werden, gehen oft auf „privates Engagement“ der Lehrkräfte zurück. So ist es in meinem Fall zunächst auch gewesen.
Wer sitzt da in den Workshops?
Das ist die gesamte Bandbreite von Polizist:innen. Angefangen bei Auszubildenden und Studierenden über Beamt:innen aus dem Streifendienst bis zur Bereitschaftspolizei. In diesem Jahr sind wir schon mehrmals mit Spezialeinheiten zusammengekommen, weil sie ernsthaftes Interesse am Thema signalisiert haben. Traditionell ist es bisher so gewesen, dass sich Spezialkräfte vor allem an den Taktiken anderer Spezialeinheiten aus dem In- und Ausland orientierten. Sich Leute von außen reinzuholen, wie in unserem Fall eine klinisch tätige Psychiaterin, ist eher nicht die Regel, aber in diesem Fall eben eine deutlich positive Entwicklung. Wenn ich mit Kolleg:innen darüber diskutiere, ob so eine Fortbildung sinnvoll ist, wird allerdings immer wieder die Frage gestellt: „Wieso ist das notwendig? Das sind doch Spezialeinheiten, die müssen vor allem zupacken.“ Dabei müssten alle Beamt:innen ein gewisses Grundwissen in diesem Bereich haben.
Mit welchen psychischen Krankheiten kommen Polizist:innen besonders häufig in Kontakt?
Das sind schizophrene Erkrankungen, die in ganz verschiedenen Formen auftreten. Ein zweiter Bereich sind dissoziative Erkrankungen, die sehr unterschiedlich sein können. Dann depressive Erkrankungen, wobei es da in unseren Seminaren nicht primär um Gewalt gegen andere geht, sondern um suizidale Syndrome. Dazu kommen Zustände, die durch Alkohol- und Drogenkonsum ausgelöst werden. Und abschließend Demenzerkrankungen. Was uns sehr wichtig ist: Wir wollen in der Fortbildung keine Stereotype befeuern. Wir sprechen auch darüber, dass solche Krankheiten jeden treffen können und längst nicht alle Leute, die an diesen Krankheitsformen leiden, automatisch gefährlich sind. Bei alledem machen wir immer klar: Wir können und wollen Polizeibeamte nicht zu Psychiater:innen ausbilden.
Wie soll ein:e Polizist:in ohne Psychologiestudium erkennen, ob sich eine Person gerade in einer psychischen Ausnahmesituation befindet?
Das kommt auf die Krankheit an und kann nicht in zwei Sätzen erklärt werden. In unseren Seminaren nehmen wir uns dafür einige Stunden Zeit. Ein wichtiger Anhaltspunkt ist, wie eine Person kommuniziert. Ist die Sprache verwaschen und sind die Inhalte zusammenhangslos? Werden Wahnvorstellungen geäußert? Hört die Person etwa Stimmen und vermeintliche Eingebungen? Daneben gibt es körperliche und motorische Merkmale: Steht jemand etwa „unnormal“ verkrampft da, also hoch angespannt und zugleich wie auf der Stelle fixiert? Das sind, grob heruntergebrochen, einige Warnsignale, die darauf hindeuten können, dass eine Situation sehr schnell kippen kann.
Immer wieder wird der Einsatz von Pfefferspray kritisiert.
Wenn ich erkenne, dass es sich um eine Person mit psychischer Erkrankung handelt, sollte niemals Pfefferspray eingesetzt werden. Das ist ein absolutes No-Go. Zum einen wirkt das Pfefferspray häufig nicht, weil das Schmerzempfinden der Menschen in einer solchen Ausnahmesituation gedämpft ist, oft durch den Konsum von Medikamenten oder sonstigen Substanzen. Zum anderen wird der Einsatz von Pfefferspray besonders von psychotischen Personen regelmäßig als aktiver Angriff interpretiert.
Man muss sich das so vorstellen: Diese Menschen haben währenddessen teils eine völlig andere Wahrnehmung. Sie fühlen sich möglicherweise in ihrem Leben bedroht. Und da kommt dann jemand, der irgendetwas auf sie sprüht oder der aktiv auf sie zugeht. Das kann als lebensbedrohliche Geste interpretiert werden. Dann kann es passieren, dass die Person wegen des Einsatzes von Pfefferspray urplötzlich losrennt und zum Angriff übergeht, möglicherweise mit einem Messer. Ich wusste früher auch nicht, dass Pfefferspray die Einsätze in diesem speziellen Kontext auch für die Polizist:innen selbst gefährlicher macht. In der Ausbildung zum Streifenpolizisten lernt man das in der Regel nicht.
Stoßen Ihre Schulungen auch auf Kritik?
Wenn ich mit dem Thema um die Ecke komme, dann gibt es oft erst mal tausend Bedenken. Ein beliebtes Argument der Kritiker ist: Das kann man „vom Schreibtisch aus“ ja immer schlau erklären, aber wie soll das denn ein Beamter oder eine Beamtin im Einsatz in fünf Sekunden erkennen? Das kann ja auch kein Psychiater.
Was antworten Sie dann?
Erstens sage ich dann, dass das kein Schreibtischthema ist. Es ist hochrelevant, wie zahlreiche Einsätze zeigen. Zudem bin ich selbst während meiner Zeit im Einsatz- und Streifendienst auf das Thema aufmerksam geworden und nicht aus dem vermeintlichen Elfenbeinturm heraus. Mir wurde bewusst, dass meine Kolleg:innen und ich zu zahlreichen Themen aus- und fortgebildet wurden, aber ausgerechnet zu diesem nicht – obwohl man damit ständig zu hat. Häufig ist es eben nicht so, dass man innerhalb von Sekunden eine Entscheidung treffen muss. Oft kommt der Notruf schon aus einer Einrichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, man kennt die Umstände grob oder es gibt bereits am Notruf klare Hinweise auf entsprechende Hintergründe.
Es ist eher die Ausnahme, dass der Streifendienst in der Fußgängerzone spontan auf eine Person trifft, die sich beispielsweise umbringen will. Es bietet sich also an, schon beim Notruf genau hinzuhören: Was wird da gesagt? Und anschließend zu prüfen, ob man die Person schon im System hat, vielleicht sogar die konkrete Störungsform aus vorangegangenen Einsätzen kennt. Das wird häufig nicht gemacht. Das ist schade, weil sich die Beamtinnen und Beamten so oft unvorbereitet in schwierige Situationen begeben, obwohl sie auf mehr Informationen hätten zugreifen können. Mit zu viel Aktionismus, zu schnellem Agieren, vor allem unstrukturiertem Agieren, bringt man die Situation eher zum Entgleisen.
Gibt es andere Staaten, von denen sich die deutsche Polizei etwas abschauen kann?
Wenn irgendwo hingeschaut wird, dann gerne in die USA. Dort sind aber nahezu alle Indizes schlechter, was die Kriminalität und die Polizeiarbeit betrifft. Wir sollten uns in Deutschland noch stärker als bisher zu einer Polizeiphilosophie hinwenden, die kommunikativ und deeskalierend ist und bei der man regelmäßig die Expertise anderer Professionen einbezieht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin