Polizeieinsatz in Geflüchtetenunterkunft: Statt Hilfe kam der Todesschuss
Neun Geflüchtete teilten sich ein Haus im Landkreis Stade. Als einer in einer psychischen Notsituation ist, wird er von der Polizei erschossen.
Das Grundstück liegt etwas abseits des Ortskerns der 40.000-Seelen-Gemeinde. Der nächste Supermarkt liegt in 20 Minuten Laufweite, in der direkten Umgebung finden sich Steinmetz*innen, KfZ-Mechaniker*innen und Fliesenleger*innen. Der Garten wirkt vernachlässigt, Büsche wuchern über die Zäune.
„Seit das passiert ist, kann ich nachts nicht mehr in Ruhe schlafen, das kommt immer wieder hoch“, erinnert sich Tayeb Yousif*. Mehrere Jahre wohnte er mit Ibrahim zusammen. Drei Mal riefen er und seine Mitbewohner am 3. Oktober die Polizei, weil Ibrahim sie bedrohte. Beim ersten Einsatz seien die Beamt*innen nach einem Gespräch wieder gefahren. Als das zweite Mal eine Streife kam, sei Ibrahim mitgenommen worden. Ihnen sei gesagt worden, er bleibe dort über Nacht, erinnert sich Ali Hashim*, ein anderer langjähriger Mitbewohner. Ibrahim habe selbst angeboten, sich in Gewahrsam zu begeben, sagt der Pressesprecher der Staatsanwaltschaft Stade gegenüber der taz. In Absprache mit einem Gericht habe man sich aber dagegen entschieden, ihn in eine Klinik einzuweisen.
Ali Hashim kann das nicht verstehen. Er fühlt sich nicht ernst genommen: „Es war klar, dass er krank ist.“ Nachdem Kamal Ibrahim vor Monaten aufgehört hatte zu arbeiten, habe er sich immer weiter zurückgezogen. Schon am 27. September war Hashim deswegen im Rathaus. Mit dem Betreuer der Gemeinde verständigte er den sozialpsychiatrischen Dienst. Ute Kück, die Bürgermeisterin von Harsefeld, bestätigt das. In der Unterkunft habe man aber keinen Arzt gesehen, sagt Hashim. Der zuständige Landkreis Stade will sich mit Verweis auf die ärztliche Schweigepflicht nicht dazu äußern. Ob die Kontaktaufnahme mit dem sozialpsychiatrischen Dienst der Polizei bekannt war, lässt die Staatsanwaltschaft auf Nachfrage bis Redaktionsschluss offen.
Polizist*innen müssen geschult werden
Nach dem zweiten Einsatz am 3. Oktober kam Ibrahim trotz seiner Verfassung wieder zurück, erzählt Hashim. Als ein Teil der Bewohner der Unterkunft am Abend im Erdgeschoss gesessen habe, habe Ibrahim sie wieder mit einem Messer bedroht. Sie riefen zum dritten Mal die Polizei. Ibrahim habe sich in sein Zimmer im ersten Stock zurückgezogen. Vier Polizist*innen seien gekommen. „Wir haben nur gehört, wie sie gerufen haben, er soll das Messer wegwerfen“, sagt Hashim. „Und die Schüsse. Vier Schüsse.“ Einen Mitbewohner, der ebenfalls im ersten Stock war, hätten die Beamt*innen davor angewiesen, in seinem Zimmer zu bleiben, habe dieser Hashim erzählt. Zwei Kugeln hätten ihn nur knapp verfehlt. Mit Journalist*innen will er momentan nicht sprechen.
Bis zum 14. Oktober war die Unterkunft gesperrt. An den Wänden, dem Boden und dem Teppich eines Zimmers findet man noch immer große Blutflecken. Markierungen der Spurensicherung kleben um Einschusslöcher in der Tür eines Zimmers im ersten Stock. Ermittler*innen aus Cuxhaven gehen nun der Frage nach, ob die Polizist*innen in Notwehr handelten.
Der Fall mache deutlich, dass Polizist*innen dringend im Umgang mit psychisch erkrankten Geflüchteten geschult werden müssen, schreibt das Netzwerk für traumatisierte Geflüchtete in Niedersachsen in einer Pressemitteilung. Fachärzt*innen, im Mindesten Psycholog*innen, müssten bei entsprechenden Einsätzen hinzugezogen werden. Wichtig sei jetzt vor allem, eine gute Betreuung der Betroffenen in der Unterkunft zu gewährleisten.
Bis zwei Uhr hätten sie an dem Abend auf der Straße gestanden, erinnert sich Hashim. Die Polizei habe ihre Daten aufgenommen und einer hätte dann gesagt, sie brächten Ibrahim nun in ein Krankenhaus. „Am nächsten Tag haben wir gehört, dass er gestorben ist. Wir haben das aus der Zeitung erfahren, nur aus der Zeitung“, sagt Hashim. In der Nacht habe sich niemand um eine Unterkunft für die übrigen Bewohner gekümmert, sagt Tayeb Yousif. Sie hätten daraufhin Freund*innen angerufen und seien dort untergekommen.
„Black Lives Still Matter“
Die Gemeinde Harsefeld sagt auf taz-Anfrage, am Montagmorgen habe es erstmalige Überlegungen gegeben, Ersatzunterkünfte bereitzustellen. Die Kommunikation mit den Geflüchteten habe sich als schwierig erwiesen. Bei einem Treffen mit einem Seelsorger vier Tage später sei dann alles besprochen worden.
Nach etwa einer Woche habe die Gemeinde ein Hotel zur Verfügung gestellt, erzählt Ali Hashim. Nun seien die Geflüchteten in einer anderen Wohnung untergebracht, die aber nur eine Küche und ein Bad für acht Leute habe. Deswegen suchen sie alle selbst Wohnungen. Zurück in die Unterkunft wollen sie auf keinen Fall, denn alles erinnere sie an Ibrahims Tod.
Über die Geschehnisse sind die ehemaligen Mitbewohner Ibrahims so schockiert und wütend, dass sie am 23. Oktober in Stade um 14 Uhr vor dem Rathaus demonstrieren wollen. „Black Lives Still Matter“ steht auf einem Bild, das zur Mobilisierung versendet wird. „Niemand hier glaubt uns. Warum passiert so etwas immer nur Schwarzen Menschen?“, fragt Tayeb Yousif.
Besondere Aufmerksamkeit erregt der Fall auch, weil im Landkreis Stade 2019 der Geflüchtete Aman Alizada von Polizist*innen erschossen wurde. Auch Alizada war wohl in einem psychischen Ausnahmezustand und soll Beamt*innen angegriffen haben. Ein kriminologisches Gutachten der Verteidigung nährte Zweifel an der Darstellung der Polizei, es habe sich um Notwehr gehandelt. Erst kürzlich ist eine Beschwerde auf Wiederaufnahme der Ermittlungen gescheitert. Personelle Überschneidungen der beiden Fälle, so die Staatsanwaltschaft Stade, gebe es keine. Der Bezug zum aktuellen Fall sei aber sofort da gewesen.
*Name geändert
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