piwik no script img

Politologe über Unruhen in Frankreich„Es wird einen Rechtsruck geben“

Die Mehrheit der Franzosen verurteilt die anhaltenden gewalttätigen Proteste, sagt der Politologe Joseph de Weck. Den Protestierenden fehle ein Forderungskatalog.

Der Staat und seine Gewalt: Polizeiaufgebot im südfranzösischen Marseille am 30. Juni Foto: Frederic Munsch/SIPA/action press
Interview von Lisa Schneider

taz: Herr de Weck, warum eskalierten die Unruhen in Frankreich so?

Joseph de Weck: Ausgangspunkt war der Mord an einem 17-Jährigen durch einen Polizisten in der Pariser Banlieue. Solche Vorstädte gibt es überall in Frankreich, sie wurden seit den 1950er Jahren hochgezogen, vor allem als Sozialwohnungen. Dort konzentriert sich die arme Bevölkerung Frankreichs – bis zu 40 Prozent der Menschen leben unter der Armutsgrenze, darunter viele Migranten und Franzosen mit Migrationshintergrund.

Bild: privat
Im Interview: Joseph de Weck

ist Politologe, Europa-Direktor der Beratungsagentur Greenmantle, und hat ein Buch über Emmanuel Macron geschrieben

Wie sieht die Lebensrealität dort aus?

Die Menschen haben das Gefühl, von der Mehrheitsgesellschaft nicht vollends akzeptiert werden. Sie werden nicht als Franzosen gesehen, obwohl sie oft bereits in zweiter oder dritter Generation in Frankreich leben. Sie sind oft Diskriminierung im Alltagsleben ausgesetzt: etwa weil sie viel öfter kontrolliert werden von der Polizei oder weil sie geringere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Im Jahr 2005 starben in Clichy-sous-Bois zwei Jugendliche mit Migrationshintergrund auf der Flucht vor Polizisten bei einem Unfall. Auch damals gab es Ausschreitungen. Hat sich seitdem nichts verändert?

Im Vergleich zu 2005 ist heute die wirtschaftliche Situation deutlich besser. Die Jugendarbeitslosigkeit liegt heute bei knapp 17 Prozent, damals lag sie bei über 23. Außerdem wurde massiv in Bildung investiert. Zum Beispiel wurde die Größe der Schulklassen in diesen Vierteln halbiert. Doch meist ist es so: Wer den sozialen Aufstieg schafft, zieht aus der Banlieue fort. Die Viertel bleiben homogen, es findet keine gesellschaftliche Durchmischung statt.

Warum entzündeten sich die Proteste so intensiv, obwohl es Verbesserungen gab?

Der Mord an Nahel ist kein Einzelfall. Immer wieder gibt es tödliche Polizeigewalt. In diesem Fall gibt es ein Video des Vorfalls, das in den sozialen Medien viral ging. Das wirkte wie ein Brandbeschleuniger. Außerdem ist in Frankreich die Protestkultur im Allgemeinen gewalttätig. Auch bei den Protesten der Gelbwesten wurden ganze Straßenzüge verwüstet, alles kurz und klein geschlagen. Die Gelbwesten entsprachen vom äußeren Eindruck her eher der Mehrheitsgesellschaft, Staatspräsident Emmanuel Macron ging auf sie zu und nahm die Erhöhung der Benzinsteuer – Auslöser der Proteste – zurück. Auch gegen die jüngste Rentenreform gab es Proteste, die zum Teil extrem gewalttätig waren.

Mit den Protesten der Gelbwesten und denen gegen die Rentenreform gab es teilweise große Solidarität in Frankreich. Ist das nun auch so?

Wenn man sich aktuelle Umfragen ansieht, ist klar, dass die meisten Franzosen überhaupt kein Verständnis für diese Gewalt haben. Viele wünschen sich eine „Law and Order“-Politik, wie sie die Rechten gerade laut fordern. Das ist ein Unterschied zu den Protesten der Gelbwesten. Trotz Gewalt gab es damals ein gewisses Verständnis in der Bevölkerung. Es ist aber nicht nur die weiße Mehrheitsgesellschaft, die die Gewalt verurteilt. Gerade die Menschen in der Banlieue leiden am meisten, etwa wenn Supermärkte brennen, und Mitläufer versuchen, von der temporären Absenz des Staates zu profitieren. Die Gelbwesten plünderten und errichteten Barrikaden mit einem Forderungskatalog in der Hand. Diesmal wird auch geplündert, aber ohne ein solches Manifest.

Stellen die Demonstrierenden keine Forderungen an Frankreichs Politik?

Nein. Diese Debatte muss jetzt beginnen. Es gibt einzelne Bürgermeister, die das tun, etwa der von Trappes im Großraum Paris, der sagte: Wir brauchen nicht mehr Geld, sondern mehr soziale Durchmischung. Und Frankreich muss sich fragen: Wie können wir Rassismus besser begegnen?

Die Rechten in Frankreich ziehen Kapital aus den Protesten, bezeichnen Migration als Quelle der Gewalt und fordern ein hartes Vorgehen.

Die Ausschreitungen werden zu einem größeren Rechtsrutsch in Frankreich führen. Das ist ein sich wiederholendes Muster. Es werden aber nicht nur die Proteste immer gewalttätiger, sondern auch der sprachliche Diskurs. Die Rechten sprechen etwa von „Verwilderung“, Politiker wie Eric Zemmour befeuern das und fallen mit solchen sprachlichen Grenzüberschreitungen auf. Und zwischen dieser Eskalation und der auf den Straßen gibt es eine Verbindung.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

13 Kommentare

 / 
  • Vielen Dank an Herrn Hauck, dass sie uns über den Vorfall aufklären. Es ist immer wichtig, Informationen zu haben von Leuten, die wie Sie vor Ort waren. Und nicht solche, welche die Hetze der Rechtsextremen weiterverbreiten.

  • www.theguardian.co...ice-have-abandoned



    The Observer France - ‘We are seen as less human’: inside Marseille’s districts abandoned by the police

  • Déjà-vu



    //



    www.deutschlandfun...nruhen-in-100.html



    //



    "Diese Taten müssen mit aller Härte verfolgt werden“



    Der damalige Innenminister Nicolas Sarkozy reagiert mit Großeinsätzen der Polizei und Festnahmen. Seine „Null-Toleranz-Politik“ heizt die Stimmung nur noch mehr an. Ohnehin ist Sarkozy in den armen Vorstädten Frankreichs verhasst. Die Jugendlichen nannte er Gesindel, Abschaum, von dem man die „banlieue“ mit dem Hochdruckreiniger säubern sollte.



    „Es ist doch ganz klar, was die Krawalle ausgelöst hat. Nach dem Drama in Clichy gab es überhaupt keine Aufklärung. Sarkozy hat sogar gesagt, die beiden Jugendlichen seien Kriminelle, obwohl das überhaupt nicht stimmt. Der Minister sollte mehr Acht geben, was er sagt. Er verletzt die Gefühle der Menschen hier“,



    sagt ein Jugendlicher aus der Pariser Vorstadt ..."

  • Komisch ich lese überall forderungen derjenigen die da Demonstrieren, abschaffen/anpassen der verschiedensten Gesetze, insbesondere die Nutzung von Maschinenpistolen. ebenso lese ich das Rassismus in der Gesellschaft anerkannt und vor allen Dingen dagegen vorgegangen wird.



    Denn es war nicht das Video allein was die Proteste heraufprovozierte sondern teils wie wir es in D auch mittlerweile haben, eine angebliche Gewaltenteilung die sich selbst überprüft, legitimiert und nicht kritisch hinterfragt. In dem zuerst die Polizei bekannt gab (nach Rücksprache mit dem Täter/Mörder) das kein Waffe gezogen worden sei, das kein Aussagen kamen das er erschossen werden soll. Das Video hat dies widerlegt! Und DAS ist es was die Menschen auf die Straße brachte.

    Das rechte davon Kapital schlagen sehen wir auch in D. Auch da werden Faschostrukturen in Behörden wie Polizei, VS und Gerichten hofiert!

    Kann man wirklich so naiv sein und dies nicht erkennen als Politologe?

  • Wenn ein Migrant in Nanterre bei einer normalen Verkehrskontrolle einfach so von der Polizei erschossen wird, nur weil er anders aussieht, dann stimmt was nicht.

    • @Kommen Tier:

      Migrant ? Stop, zurückspulen, nochmal: Gebürtiger Franzose.

    • @Kommen Tier:

      Das war keine "normale" Verkehrskontrolle, der Fahrer ist vorher durch seine Fahrweise afgefallen und hat sich dann der Kontrolle entzogen. Ihn hier als total unschuldig und als reines "Opfer" dazustellen ist unredlich.

    • @Kommen Tier:

      Was?!?!?! Das war keine normale Verkehrskontrolle. Nach Angaben der Staatsanwaltschaft fuhr Nahel als 17jähriger einen Mercedes-AMG mit polnischem Kennzeichen mit hoher Geschwindigkeit auf der Busspur. Die Polizisten aktivierten ihre Signalanlagen und forderten ihn an einer roten Ampel auf, zu parken. Dieser überfuhr dann die rote Ampel und flüchtiete. Er beging dabei mehrere Verkehrsverstöße, gefährdete an Fußgängerüberwegen einen Fußgänger und einen Radfahrer und musste schließlich wegen Staus anhalten.Die abgestiegenen Polizisten forderten ihn auf, die Zündung auszuschalten.Er leistete der polizeilichen Aufforderung nicht Folge , sondern fuhr an.

  • Wenn marodierende Horden durch die Städte ziehen, sollte man sich nicht über einen Rechtsruck wundern. Polizeigewalt hin oder her. Vielmehr sollte man sich darüber Gedanken machen, wie man die Wut in akzeptable Formen des Protests kanalisieren kann. Damit könnte man vielleicht sogar etwas erreichen. Diese gewaltsamen Proteste unterstützen nur Le Pen.

  • Zeit 2023-07-03 Jugendaufstände in Frankreich. Rechtsextreme und Polizeigewerkschaften nutzen die Ausschreitungen in Frankreich gemeinsam für ihre Agenda.



    www.zeit.de/politi...manuel-macron?s=35



    Darin zitiert wird eine Erklärung der Polizeivereinigung UNSA POLICE



    Police nationale alliance



    Demander le calme ne suffit plus ! -



    offizielles Statement der UNSA:



    "Angesichts der wilden Horden reicht es nicht die Lage zu beruhigen"



    "Heute sind die Polizisten im Kampf, weil sie sich im Krieg befinden".



    Communiqué de presse 30. Juni 2023.



    Genau wie Mohamed Amjahid es schreibt: "Verbale und physische Dehumanisierung"



    Dazu überfallen rechtsradikale Banden migrantische Viertel und Macron schweigt zu den Tiraden von Le Pen.



    DAS ist es was den Rechtsruck betreibt!

  • Der Rechtsruck wurde durch die Polizeigesetze von Sarkozy vollzogen, die erst diese Gewalt ermöglicht haben. Es wurde also schon an der Gewaltspirale gedreht, deren Auswirkungen jetzt ihren Ausdruck auf der Straße finden.

    • @fmraaynk:

      "...Polizeigesetze..., die erst diese Gewalt ermöglicht haben."



      Das müsste man mir erklären. Die derzeitigen gewalttätigen Ausschreitungen seitens der (meist) Jugendlichen der Banlieus wurden erst durch Polizeigesetze möglich?



      Tut mir leid, das halte ich so für... nun... unrichtig.

      • @Encantado:

        Die Benutzung von Schusswaffen wurde erleichtert,was sich auch beim sprunghaften Anstieg der Todesopfer wiederspiegelt.



        Erst das Polizeigesetz hat einen rechtsfreien Raum ermöglicht,der der Willkür für die Polizei Tür und Tor geöffnet hat. Diese Ungerechtigkeit ist der brandbeschläuniger für die Ausschreitungen.