Politisches Kunstprojekt: Eine neue Work-Life-Balance
In Thessaloniki fragt das deutsch-griechische Kunstprojekt „Tempus Ritualis“ nach neuen Formen der Vergemeinschaftung in Zeiten der politischen Krise.
Crisis. What Crisis? Wer in diesem Sommer nach Thessaloniki reist, fragt sich, wo eigentlich die vielbeschworene griechische Krise ist. Der Hellenen zweitgrößte Stadt boomt nicht nur wegen des Tourismus. Nobelboutiquen säumen die Boulevards der nordgriechischen Stadt am Thermaischen Golf. Man sollte nicht meinen, dass die Arbeitslosenrate hier bei 30 Prozent liegt. So exzessiv wie die multikulturelle Metropole allabendlich die Rituale des globalisierten Consumer-Lifestyle auslebt: shoppen, essen, flirten.
Auch in der kleinen Ausstellung im Hafen von Thessaloniki sieht man keine Krise. Es sei denn, man hält die Bilder, die die Fotografin Lia Nalbantidou in das „Warehouse B1“ gehängt hat, für deren Beweis. In ihrer Serie „Urban secret gardens“ hat die Künstlerin aus Thessaloniki Schlafstellen von Obdachlosen, zum Treffpunkt umfunktionierte Baustellen oder Sitzecken in Fußgängerzonen kurz vor Morgengrauen abgelichtet. Doch in dem Backsteingebäude, eine Art PS1 des Staatsmuseums für Zeitgenössische Kunst, geht es gerade nicht darum, die verdrängten Schattenseiten der Krise ins sommerlich vernebelte Bewusstsein zu heben.
Die vom Institut für Auslandsbeziehungen (IfA) unterstützte Schau fragt vielmehr, was aus ihr herausführen könnte. „Tempus Ritualis“ ist eines jener kleinen Kunstprojekte, denen man oft mehr abgewinnen kann als spektakulären Biennale-Manifestationen, weil sich mitteilt, dass ihre Macherinnen ein echtes Anliegen treibt. 2009, auf dem Höhepunkt der griechischen Staatskrise, das Feindbild Merkel grassierte, wollten die berlin-thessalonikischen Künstlerinnen Christina Dimitriadis und Evanthia Tsantila eine andere Form des deutsch-griechischen Dialogs initiieren – einen mit ästhetischen Mitteln.
Liebe, Tanzen, Party
Zusammen mit der Berliner Kuratorin Christine Nippe haben sie in nur zwei Jahren und mit weniger als 50.000 Euro ein Kunstprojekt mit einem zunächst altmodisch-gelehrsamen Titel auf die Beine gestellt. Sie luden zehn Künstlerinnen ein, die griechische Realität vor Ort zu untersuchen. Doch wenigstens einmal sollte es nicht um die – zum Medienklischee geronnene – „griechische Krise“ gehen. Deswegen gaben sie die Stichworte „Zeit“ und „Ritual“ vor.
Das Ergebnis ist eine kleine, aber fokussierte Schau. Die wieder einmal demonstriert, dass die Kunst soziale Mechanismen sichtbar machen kann, die tiefer reichen als alle Krisen. Auf Evanthia Tsantilas ins Malerische retuschierten Fotografien „Miraculous Images“ schälen sich diffus Menschenmengen aus dem dunklen Innenraum einer orthodoxen Kirche. In ihrem Film „The Bathers“ beobachtet die griechische Filmemacherin Eva Stefani Rentner bei Solidaritätsritualen: der abendlichen „Parlaments“-Sitzung auf einem Campingplatz oder beim alljährlichen Schlammbad in einem Kurort. „Liebe, Tanzen und Party ist alles, was ich will“, ruft eine beleibte Seniorin und wirft kokett ihre Hände gen Himmel.
In ihrer Fotoserie mit dem bezeichnenden Titel „Metamorphosis is the only Grace offered Greece“ hat Co-Kuratorin Christina Dimitriadis ein prägnantes Bild für die gemischten Gefühle der Griechen derzeit gefunden. In einem unverputzten Rohbau aus Beton sitzt ein Elternpaar mit seiner Tochter und spielt mit Bauklötzen. Ihre ernsten Gesichter signalisieren, dass das Spiel, das bislang die kulturellen Codes transportierte, nicht mehr so einfach funktioniert. Trotzdem bauen sie den kleinen Turm vor sich auf. Verzweiflung und Hoffnung liegen in Griechenland in diesen Tagen eng beieinander.
Obwohl in Thessaloniki entstanden, funktionieren alle Arbeiten als allgemeine Metaphern. Ob es der schwere Block in Christine Schulz’ Kurzfilm „Delphic Raft“ ist, den Männer und Frauen sisyphosartig eine Treppe hinaufwuchten. Oder ob es der nach vorne offene Horizont in den rätselhaften Fotografien Pia Greschners ist. „Amazing things will happen“ hat sie eine Fotoserie und ein Video genannt, das die Strandpromenade Thessalonikis zeigt. Gelegentlich joggt ein Stadtbewohner vorbei. Über ein freistehendes Eisengitter geht der Blick auf das offene Meer.
Gleichsam in Reinkultur zeigt diese Metapher das Video „Dynamis“ des Berliner Künstlerduos Nina Fischer und Maroan el Sani. Mühsam überredeten sie Thessaloniker für ein dem japanischen Butoh-Tanztheater entlehntes Experiment: Sie müssen ein rohes Ei auf einer glatten Unterlage zum Stehen bringen. Über das Gesicht derjenigen, die den nervenzehrenden Konzentrationsakt tatsächlich bewältigten, huschte dann ein Freudestrahlen, das aus der Frühgeschichte der Evolution zu stammen schien.
„Tempus Ritualis“: Bis zum 30. August, Center of Contemporary Art, Warehouse B1, Thessaloniki. Vom 25. Oktober bis 11. Januar 2015 in der Galerie im Körnerpark, Berlin.
So verbanden Fischer und el Sani die Erfahrung der perfekten ästhetischen Form und eines individuellen Erfolgserlebnisses im Ritual des Spiels. Einen Königsweg aus der Krise haben sie mit ihrer Arbeit natürlich nicht gewiesen. Zumindest gelingt ihnen aber ein Sinnbild für die gemeinschaftliche Produktion dessen, wonach in Zeiten des Umbruchs nicht nur in Griechenland alle verzweifelt suchen: eine neue Work-Life-Balance.
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