Poetry Slam ohne Klamotten: Nackte Jungs lesen
Nach Londoner Vorbild ziehen sich in Berlin Poetry Slammer aus, um ihre Texte vorzutragen. Mit Travestie-Unterstützung.
BERLIN taz | Es muss ein Traum sein. Leuchtende Mosaike ejakulierender Penisse zieren die Wände. Discokugeln in verschiedensten Größen glitzern von der Decke. Spiegel vervielfältigen den dunklen Raum ins Endlose.
Und Carlos Maria Romero steht nackt auf einem Podest, drei Stufen über einer amorphen Zuschauermasse, die auf seine ersten Worte wartet. Ein dicht vor seinem Kopf angebrachter Scheinwerfer strahlt auf seinen Körper, verleiht seinen Augen einen feuchten Glanz. Zuerst regt sich sein Schnurrbart, dann folgt der Rest seines Mundes: „Ich werde aus ’Die Nöte des wahren Polizisten‘ von Roberto Bolaño vorlesen.“ Große Literatur.
Eine Stunde haben Hunderte Berliner vor der Monster Ronson’s Ichiban Karaoke Bar angestanden, um schmächtigen Männern beim unbekleideten Vorlesen zuzusehen. Für Berlin ist es eine Premiere, in London gibt es die Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Naked Boys Reading“ bereits seit 2012. Auch Carlos Romero ist dort schon aufgetreten. Mal wird „Cinderella“ vorgetragen, mal aus den Arbeiten Freuds gelesen, immer von Amateuren.
„By literature I mean cocks“
Ein Schweizer Unternehmer will mit einer einzigen Zahl das Wohlbefinden jedes Menschen messen. Und so die maroden Krankenkassen sanieren. Wie genau das funktionieren soll und auf welche Widerstände er stößt, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 18./19. April 2015. Bonjour, Israel! Wie geflohene, französische Juden in Israel ankommen. Und: Der Tocotronic-Produzent Moses Schneider. Ein Interview über Dur. Außerdem: Nackte Jungs lesen. Ein Literaturevent. Plus: Hausbesuch bei Deutschlands einzigem professionellen Nacktmodell. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Gegründet und exportiert wurde „Naked Boys Reading“ von der Amerikanerin Dr. Sharon Husbands. Eine blonde Drag-Amazone mit Bart und Brustbehaarung, die selbst ohne ihre glitzernden High Heels einen Großteil der Gäste überragen würde. Die Wimpern sind falsch. Der Doktortitel ist echt. An der Lincoln University in London doziert Husbands – bürgerlicher Name: R. Justin Hunt – über Queerness. Moderiert und gelesen wird an diesem Abend hauptsächlich auf Englisch.
„We’re here to appreciate literature“, heißt es von ihr zu Beginn der Veranstaltung. Unter vorgehaltener Hand fügt sie hinzu: „And by literature I mean cocks.“ Husbands zur Seite steht Pansy Parker. Eine Berliner Größe in der Drag- und Travestieszene: Marilyn-Monroe-Locken, Lisa-Simpson-Perlenkette. Und unter ihrer seidenen Robe prangt ein nackter Frauenkörper, es handelt sich um einen Ganzkörperanzug aus Gummi.
Auf dem Podest trägt Romero weiter aus dem Bolaño-Roman vor. Es geht um den chilenischen Literaturprofessor Amalfitano, der nach dem Tod seiner Ehefrau in eine Affäre mit seinem Studenten Padilla rutscht. Und es geht um die Geschichte der Dichtkunst: „Walt Whitman, zum Beispiel, war ein schwuler Dichter. Pablo Neruda war eine Dichterschwuchtel. Rubén Darío war eine Tunte, eigentlich die Königin und der Inbegriff“, liest Romero vor. Eine Flut aus Referenzen, die sogar Literaturstudenten überfordert. Doch das Publikum feiert ihn. Genauso, wie es sich selbst feiert – jedes Mal, wenn Romero Schwuchtel sagt oder Tunte oder Schwester oder Trine.
Schwule, schwule Hipster
Nackt ist hier normal. In dieser Karaokebar in Berlin-Friedrichshain, wo sich das Publikum vor allem aus Schwulen und schwulen Hipstern zusammensetzt. Man sieht viele Bärte. Stellt man sich vor, die gleiche Veranstaltung hätte mit bekleideten Performern stattgefunden – quasi wie ein Poetry Slam, nur ohne Gewinner –, die Dynamik zwischen Publikum und Bühne wäre eine komplett andere. Doch hier wird die Nacktheit aus dem privaten in den öffentlichen Raum geholt; und sie wird belohnt – mit Applaus und Anerkennung. Fast schon unabhängig von dem vorgelesenen Text.
Im Barbereich hält ein Mann in Hemd und Pullunder jedem, der seine Aufmerksamkeit erregt, eine Tüte mit Süßigkeiten vor das Gesicht. „Fin-ger-pup-pen“, liest er vor, jede Silbe einzeln betonend. Gewählt werden darf zwischen Prinzessinnen, Rittern und Einhörnern – versehen mit einem kleinen Weingummiring zum Anstecken. Wer zugreift, bekommt den Ratschlag „vorher dehnen! Oder draufspucken“.
Ein Subkultur-Event. Ein bisschen David Bowie, ein bisschen Studio 54, Stonewall und Romy Haag. Die Linie zwischen Ernst und Ironie verschwimmt. Nach den Lesungen bewegt sich ein Mann in grünem Hasenkostüm durch die Menge.
In Sekundenschnelle nackt
Als Viertes tritt ein junger Dichter aus New York auf die Bühne, Ezra Green. Er liest als Einziger eigene Texte vor. Das Publikum liebt ihn. Feiert ihn, als stünde der nächste große Romancier vor ihnen. Obwohl Gedichte, die einem feierwütigen Publikum vorgetragen werden, eigentlich kaum zünden können, und seine Texte knapp an der Peinlichkeit vorbeischrammen. Manchmal muss er über seine eigenen Werke lachen.
In einer der Pausen zwischen den Lesungen gibt es einen Wettbewerb. Zu gewinnen gibt es zwei Bücher über Bärte. Pansy, die moderierende Dragqueen, sucht im Publikum nach vier Freiwilligen. Drei Männer springen bereitwillig auf die Bühne, eine junge Frau lässt sich von ihrem Begleiter überreden und schlurft hinterher.
Pansy hat noch nicht ausgesprochen, wie gewonnen werden kann – da haben es die Männer schon erraten, ziehen sich in Sekundenschnelle aus. Die Frau bleibt peinlich berührt stehen. Die zwei schnellsten Nackedeis bekommen die Bücher. Doch der dritte soll auf Wunsch von Pansy noch auf der Bühne bleiben. Weil er nackt so gut aussieht.
Peinliche Stille
Nacktheit ist an diesem Abend schnell nicht mehr außergewöhnlich. Für das Publikum. Für die Performer schon, sie wirken oft unsicher, ringen mit sich und ihrem Mut. Sie wirken verletzlich, fragil. Und gerade deshalb wird ihnen Respekt entgegengebracht. Und mehr: Schlechte Witze werden gefeiert, Stottern mit einem liebevollen Lachen abgetan.
Der Höhepunkt des Abends ist ein angekündigter Special Guest, der, wie sich herausstellt, wiederum Dragqueen Pansy mit dem Frauen-Bodysuit sein wird. Als er sich sein Kostüm auszieht, geht sein Konzept auf. Das Publikum ist irritiert. Pansy, der nackt und biologisch ein ziemlich behaarter Mann mit vielen Tattoos ist: „You’re confused, right?“, fragt er und lacht herzlich.
Er liest aus John Henry Mackays „Der Puppenjunge“ vor und schickt Andeutungen voraus, dass sich der Roman mit Teilen seiner eigenen Biografie deckt. Es geht um einen jungen Homosexuellen, der das Berlin der Goldenen Zwanziger entdeckt und sich dabei prostituiert. „You know, because I, too, am a sex worker!“ Es wird peinlich still im Raum. Pansy beeilt sich, das Kapitel vorzulesen. In seiner Stimme schwingen viele Emotionen mit, dies ist ein wichtiger Moment für ihn.
Er gibt zu, dass auch er hier das erste Mal nackt vor Publikum steht. Ein Spiel mit Andeutungen und Missverständnissen, eine Performance. Pansy hat sich niemals prostituiert, wie er später auf Nachfrage erklärt. Vielleicht war auch seine Zerbrechlichkeit nur Inszenierung?
Authentizität wird zu einem unscharfen Begriff, wenn nackte Haut wie ein Anzug abgelegt werden kann.
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