Platzverteilung auf der Straße: Pop-up-Radwege sind möglich
Ein Gutachten zeigt: Kommunen könnten viel mehr öffentlichen Raum zugunsten von Radler:innen und Fußgänger:innen umverteilen.
BERLIN taz | Städte und Länder haben viel mehr rechtlichen Spielraum, öffentlichen Raum zugunsten von Radler:innen und Fußgänger:innen umzuverteilen, als sie bislang nutzen. Temporäre Radwege, die sogenannten Pop-up-Bikelanes, können von Kommunen rechtssicher angelegt werden.
Zu diesem Ergebnis kommt ein Gutachten, das an diesem Dienstag veröffentlicht werden soll und der taz vorab vorlag. Es heißt „Zur Möglichkeit einer gerechten Flächenverteilung in Innenstädten“, erstellt haben es die Bielefelder Rechtswissenschaftler:innen Melanie Engels und Andreas Fisahn im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Die meisten Städte tun sich grundsätzlich schwer damit, neue Radwege oder reine Fußgänger:innenbereiche auszuweisen und im Gegenzug Platz für Autofahrer:innen zu verknappen. In der Coronakrise sind an etlichen Orten temporäre Radwege entstanden, weil der Radverkehr stark zunahm. In vielen Kommunen dauern die Diskussionen darüber aber noch an, weil sich die Verantwortlichen in Politik und Verwaltung dagegen sperren. Sie verweisen dabei oft auf die Rechtslage. „Wir wollen mit dem Gutachten Städte dazu ermuntern, vorhandene Spielräume auch zu nutzen“, sagt Mario Candeias, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, die der Linkspartei nahesteht.
Die Pop-up-Radwege in der Coronakrise haben gezeigt, dass sich mithilfe von Baken oder Pollern auch ohne langwierige Umbauten schnell mehr Raum zugunsten von Radler:innen schaffen lässt. Und das stehe im Einklang mit den erlaubten straßenverkehrsrechtlichen Maßnahmen, stellen die Gutachter:innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung fest. Schließlich werde nur ein Teil der Straße für den Autoverkehr gesperrt.
Kassiert in nächster Instanz
Letztinstanzliche Urteile gibt es dazu noch nicht. Gegen die Berliner Pop-up-Radwege hatte ein AfD-Politiker geklagt. In der ersten Instanz hatte der Kläger mit dem Hinweis Recht bekommen, der Senat habe die Gefahrenlage im Verkehr – mit der die Einrichtung gerechtfertigt werden muss – nicht belegt.
Nachdem der Senat das nachgeholt hatte, hatte die nächste Instanz signalisiert, dass sie das Urteil kassieren würde, worauf der AfD-Politiker die Klage zurückgezogen hatte. Nach Auffassung der Gutachter:innen muss aber gar keine besondere Gefahrenlage bestehen. Es bedürfe „lediglich eines Nachweises, dass die erstrebten Wirkungen nicht auch ohne diese Maßnahmen erreicht werden könnten“.
Bei der Neuverteilung von öffentlichem Raum gibt es durchaus erhebliche Hürden und Verbesserungsbedarf, zeigt das Gutachten. Autofreie Straßen zum Beispiel lässt das Bundesrecht nicht ohne Weiteres zu, jede einzelne Straße muss geprüft und die Änderung begründet werden. „Der Begriff Straße bedeutet so gut wie immer zugleich Automobilverkehr“, schreiben die Autor:innen.
Länder haben Gestaltungsspielraum
Für große Gebiete Maßnahmen zugunsten von Fußgänger:innen und Radler:innen zu erlassen, ist auf Grundlage des Bundesrechts für Kommunen schwierig. Denn die geforderten Voraussetzungen müssen für jede einzelne Straße vorliegen, so die Gutachter:innen, „zumindest solange der Gemeingebrauch immer als gleichbedeutend mit Automobilverkehr interpretiert wird“. Sie plädieren für eine Änderung der Straßenverkehrsordnung, die aber nur über die Bundesebene erfolgen kann.
Trotzdem ist großflächiges Vorgehen in Städten schon heute möglich, wenn es politisch gewollt ist. Denn die Länder haben mit ihren Straßen- und Wegegesetzen erheblichen Gestaltungsspielraum – was insbesondere den Stadtstaaten große Möglichkeiten eröffnet. „Wünschenswert wäre eine wohl insgesamt radikale Hinwendung zu einem Präventionsstaat, der Krisen schon weit im Vorfeld antizipieren kann und nicht erst dann aktiv wird, wenn eine konkrete Gefahr besteht“, heißt es in dem Gutachten.
Mit ihrer Rechtsauffassung sind die Gutachter:innen der Rosa-Luxemburg-Stiftung nicht allein. Die Deutsche Umwelthilfe hat bereits vor einigen Monaten ein Gutachten veröffentlicht, nach dem Pop-up-Radwege rechtlich zulässig sind. Darin stellen auch die Berliner Rechtsanwält:innen Remo Klinger und Silvia Ernst fest, dass Städte Maßnahmen für eine Verkehrswende rechtssicher anordnen und schnell umsetzen können.
Leser*innenkommentare
Paul Rabe
Wer in der Stadt mit einem Auto fährt, steht meistens im Stau.
Deswegen ist es auch ganz im Sinne der Autofahrer wenn viel mehr Menschen auf das Rad umsteigen, denn dann gibt es weniger Staus und die verbliebenen Autofahrer kommen viel schneller ans Ziel
Kloetzchenschieber
Deutschland ist AutofahrerInnenland. Punkt. Hier in Düsseldorf habe ich es im Sommer letzten Jahres sehr genossen, den ersten Pop-up-Radweg in der Landeshauptstadt entlang zu fahren. Doch was passierte kurz nach der Eröffnung? Gut betuchte AnwohnerInnen, die plötzlich einen kleinen Umweg fahren mussten, um ihre rollenden Persönlichkeitsprothesen zu parken, haben massiv gegen den Pop-up-Radweg gestänkert. Der OB-Kandidat der CDU hat die Steilvorlage dankend aufgenommen, wohl wissend, dass die Stänkerer konservativ wählen. Der designierte OB-Kandidat der Düsseldorfer CDU hat im Wahlkampf auch gegen die Umweltspur Stimmung gemacht. Sollte er gewählt werden, sollte sie abgeschafft werden.
Gesagt – getan! Kaum OB, hat er die Maßnahmen seines Amtsvorgängers rückgängig gemacht. Mit solchen Stadtoberhäuptern kann die Energiewende nicht gelingen. Dass die Radwege in Düsseldorf regelrecht vergammeln, sei nur am Rande erwähnt.
17900 (Profil gelöscht)
Gast
Fahrt mal durch die Kantstraße oder durch die Schlossstraße in Steglitz.
Der Irrsinn wird dann deutlich!
Man darf Hauptverkehrsstraßen nicht zu Wohnstraßen umfunktionieren.
Auch Tempo 30 ist oftmals unangebracht.
Der Kollaps ist damit vorprogrammiert sofern er nicht bereits existiert. Aber in den höheren, verträumten Welten unser Verkehrssenatorin spielt das ja keine Rolle.
Tom Farmer
Nun, es ist ja bei Gott nix Neues, dass die öffentliche Verwaltung bei vielen Themen Spielraum hat Dinge flexible und vernünftig zu entscheiden aber es oft aus Gründen Wissensdefizit oder Bequemlichkeit nicht tut.
Schön, dass das an dieser Stelle mal wissensseitig festgehalten wird. Es bliebt aber die Bequemlichkeit.