Pläne für „Bürgergeld“ statt Hartz IV: Beratungsorganisationen skeptisch

Das „Bürgergeld“ wird wohl nicht der große Wurf, kritisieren Aktive aus der Arbeitslosenberatung. Für sie ist es nicht die erhoffte große Reform.

Eine Frau steht mit einem Schild auf der Straße: #Ich Bin Armutsbetroffen

#Ich bin Armutsbetroffen – die Kampagne begann mit dem Tweet einer Hartz-IV-Empfängerin im August 2022 Foto: Stefan Boness/IPON

BERLIN taz | Andrea Nahles, neue Leiterin der Bundesagentur für Arbeit, sieht im Bürgergeld die Chance, mit dem Kapitel Hartz IV abzuschließen. Das sagte die ehemalige SPD-Chefin und Ex-Bundesarbeitsministerin nach ihrem Amtsantritt Anfang August.

Beratungsorganisationen für Menschen, die Arbeitslosengeld (ALG) II – also Hartz IV – beziehen, widersprechen. Erstens glauben sie erst an das Bürgergeld, wenn es wirklich da ist. „Das ist ein sehr sportliches Vorhaben, das Bürgergeld zum 1. Januar 2023 einzuführen“, sagt Helena Steinhaus, Mitgründerin des Vereins „Sanktionsfrei“, der taz. Frank Steger vom Berliner Arbeitslosenzentrum evangelischer Kirchenkreise berichtet, dass das neue Gesetz in der Beratung noch keine Rolle spiele. Zweitens empfinden die Ver­tre­te­r:in­nen einige der im Juli vorgestellten Eckpunkte des Gesetzes zwar als Veränderungen zum Positiven, doch in ihren Augen ist es nicht die erhoffte große Reform. „Die Änderungen sind eher Korrekturen, aber keine grundsätzliche Verbesserung der Lage“, erklärt Steinhaus.

Der Koalitionsvertrag Die Ampel hat vereinbart, als Nachfolger von Hartz IV ein sogenanntes Bürgergeld einzuführen. Es soll „auf Augenhöhe“ funktionieren – unter anderem, weil Sanktionen erst nach einem halben Jahr „Vertrauenszeit“ verhängt werden können. Weiterbildungen sollen stärker gefördert und der Vermittlungszwang abgeschafft werden, um eine nachhaltigere Integration in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Zuverdienste von Jugendlichen sollen nicht mehr auf die Grundsicherung angerechnet werden.

Die Eckpunkte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hat im Juli konkretere Eckpunkte zum Bürgergeld vorgestellt: Darin heißt es etwa, dass eine zweijährige „Karenzzeit“ zu Beginn des Leistungsbezugs eingeführt wird, während der das Jobcenter die Wohnkosten in tatsächlicher Höhe erstattet, ohne die Wohnung auf „Angemessenheit“ zu prüfen. Außerdem sollen in dieser Zeit Vermögen bis zu einer bestimmten Höhe nicht angerechnet werden. Als Anreiz für Weiterbildungen soll es einen Bonus geben.

Die AussichtenDer Referentenentwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales liegt zwar vor, es fehlen aber konkrete Zahlen. Insbesondere die Höhe des Bürgergeld-Regelsatzes führt zu Diskussionen in der Ampelkoalition. Im September soll eine Berechnung vorgenommen werden. Laut Plan kommt der Entwurf im Herbst ins Kabinett und soll dann vom Bundestag beraten und beschlossen werden. Geht es nach Arbeitsminister Heil, tritt das Gesetz zur Einführung des Bürgergelds am 1. Januar 2023 in Kraft. (taz)

Die Eckpunkte zum Bürgergeld sehen unter anderem eine Sanktionssperre in den ersten sechs Monaten des Leistungsbezugs vor. Danach aber soll das Jobcenter „Mitwirkungspflichten“ verbindlich festlegen können. Nach sechs Monaten wären wieder Sanktionen bis zu einer Höhe von 30 Prozent des Regelsatzes möglich.

Steinhaus, deren Verein mit einem Solidaritätstopf versucht, Hartz-IV-Sanktionen finanziell auszugleichen, bleibt skeptisch: „Es ist gut, dass dann weniger Menschen sanktioniert werden. Aber ich bin enttäuscht, dass das Bürgergeld die größte Sozialreform seit Hartz IV hätte sein können und diese Chance nicht genutzt wird.“ Sie fürchte sich vor einem „faulen Kompromiss“ mit der FDP. Die Partei habe „extreme Angst vor Sozialschmarotzertum“. Es sei aber klar: Die Menschen, die sich bereits jetzt über illegale Arbeit zusätzlich finanzieren, würden das auch weiterhin tun. Das Bürgergeld werde sie nicht davon abhalten. „Es geht darum, dass Menschen, die krankheitsbedingt oder aus anderen Gründen nicht arbeiten, von dem Regelsatz leben können“, erklärt Steinhaus.

Doch genau dieser zentrale Punkt des Gesetzes ist noch nicht konkretisiert: die Höhe des Regelsatzes. Er soll wohl steigen. Heil hatte unter anderem angekündigt, den Bemessungsrahmen zu erweitern: Seine Idee ist, den Regelsatz künftig nach den Ausgaben der ärmsten 30 Prozent der Haushalte zu berechnen. Bislang werden nur die untersten 20 Prozent einbezogen. Nun berät die Ampelkoalition. Im September will die Regierung anhand von Zahlen des Statistischen Bundesamts einen Vorschlag erarbeiten.

Momentan sieht es nach einer Erhöhung um 40 bis 50 Euro aus. Der derzeitige Regelsatz würde also von 449 Euro auf rund 500 Euro steigen. Mehr Geld helfe zwar immer, sagt Steinhaus, aber 50 Euro seien zu wenig. Auch Frank Steger vom Berliner Arbeitslosenzentrum betont, dass es mindestens 200 Euro mehr geben müsste: „Der Regelsatz ist bewusst klein gerechnet. Er bildet den tatsächlichen Bedarf der Menschen nicht ab, sondern orientiert sich stattdessen an haushaltspolitischen Maßstäben. Auch die galoppierende Inflation wurde bislang nicht berücksichtigt und so der Regelsatz faktisch abgesenkt.“

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