Pionierwerk der Holocaustforschung: Das Unverstehbare rekonstruieren

Léon Poliakovs „Vom Hass zum Genozid“ gilt als erste systematische Darstellung des Holocaust. Nun ist das Buch auf Deutsch erschienen.

Portrait von Leon Poliakov

Léon Poliakov lehrte an der Sorbonne und war Forschungsleiter am CNRS in Paris Foto: Sophie Bassoults/Leemage/imago

Dieses Buch ist ein historisches Meisterwerk.“ So beginnt Ahlrich Meyers Nachwort zur deutschen Erstausgabe von Léon Poliakovs „Vom Hass zum Genozid“. Auch wenn überschwänglichem Lob zu misstrauen ist, hat der Politikwissenschaftler Meyer recht. Poliakovs Buch, das von ihm übersetzt und herausgegeben wurde, ist die erste große Studie über die Vernichtung der europäischen Juden. Es setzte zugleich Maßstäbe für die spätere Holocaustforschung.

Der Band wurde 1951 unter dem nur schwer ins Deutsche zu übertragenden Titel „Bréviaire de la haine“ (sinngemäß: „Liturgie des Hasses“) in Paris veröffentlicht. Das war zwei Jahre vor Gerald Reitlingers „The Final Solution“ und zehn Jahre vor Raul Hilbergs Standardwerk „The Destruction of the European Jews“.

Poliakov, der 1910 in Sankt Petersburg als Sohn jüdischer Eltern geboren wurde, trieb die Frage an, warum ihn die Deutschen ermorden wollten: „Es war sozusagen eine persönliche Angelegenheit“, erklärte er später.

Léon Poliakov: „Vom Hass zum Genozid“. Aus dem Französischen von Ahlrich Meyer. Edition Tiamat, Berlin 2021, 600 Seiten, 34 Euro

Und so verweist Poliakov auf irrationale Traditionen der deutschen Geistesgeschichte, die Bedeutung des Antisemitismus für die Konstitution der Volksgemeinschaft und die apokalyptische Vorstellung eines jüdischen „Gegenvolks“. In ihr ist die Idee der Vernichtung bereits angelegt.

„Niemandsland des Verstehens“

Dennoch bleibt ein blinder Fleck. Poliakov war sich bewusst, dass er auf die Frage nach den Gründen des Massenmords keine zufriedenstellende Antwort finden kann. Es gibt diese Antwort nicht. Der Holocaust ist, wie der Historiker Dan Diner einmal schrieb, ein „Niemandsland des Verstehens, ein schwarzer Kasten des Erklärens“.

Im Zentrum des Buchs steht darum auch, wie Hannah Arendt 1952 in einer begeisterten Rezension schrieb, weniger das „Warum“ als das „Wie“. Poliakov rekonstruiert detailgetreu Abläufe, Befehlsketten und Eigendynamiken des Mordprozesses. Sie waren bis dahin nur teilweise bekannt.

Zugleich spricht er über Kompetenzstreitigkeiten zwischen den verschiedenen Ämtern, die Kollaboration und die „wilde Vernichtung“, wie er es nennt. Bevor der fabrikmäßige Massenmord in den Lagern begann, wurden Juden systematisch in Wäldern und Schluchten erschossen.

Darüber hinaus verweist Poliakov auf den engen Zusammenhang zwischen dem Holocaust und der sogenannten „Euthanasie“. Bei dieser systematischen Ermordung behinderter Menschen 1940/41 wurde zum ersten Mal mit Gaskammern experimentiert. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion war das Personal federführend am Aufbau der Vernichtungslager Belzec, Sobibor und Treblinka beteiligt.

Angesichts des existenziellen Erschreckens

Mit seiner Rekonstruktion des Vernichtungsprozesses trägt Poliakov all das zusammen, was auch einige nachgeborene Historiker gern mit den Ursachen des Holocaust verwechseln. Da ihnen das existenzielle Erschrecken abgeht, das Poliakovs Buchs durchzieht, genügen ihnen kumulative Radikalisierungsprozesse, kriegsbedingte Verrohung oder Habgier als Erklärung.

Zugleich nimmt Poliakov Fragen vorweg, die erst später wieder für die Forschung interessant wurden. Über die Verbindungen zwischen dem Holocaust und der Ermordung behinderter Menschen ist trotz einiger hervorragender Studien immer noch zu wenig bekannt. Dafür weiß man inzwischen, dass fast die Hälfte der ermordeten Juden der „wilden Vernichtung“ zum Opfer fiel – dem „Holocaust durch Gewehrkugeln“, wie es mittlerweile heißt.

Ebenso wie den meisten anderen frühen Holocaustforschern ging es jedoch auch Poliakov nicht allein um die Dokumentation. Die Erforschung der Tat war vielmehr eng mit der Verfolgung der Täter verbunden.

Poliakov hatte sich nach dem Fall von Paris der Résistance angeschlossen. Bald gehörte er zu den Mitarbeitern des Centre de documentation juive contemporaine, das schon 1943 in der Illegalität gegründet worden war. In dieser Funktion sicherte er nach dem Abzug der Deutschen die von ihnen zurückgelassenen Akten. Sie wurden der französischen Anklagevertretung bei den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen zur Verfügung gestellt. Dort arbeitete Poliakov ab 1946 als Sachverständiger.

Nürnberger Prozesse

Diesen Prozessen kommt eine bedeutende Rolle für die frühe Holocaustforschung zu. Denn obwohl die Vernichtung in Nürnberg nicht direkt verhandelt wurde, war sie deutlich präsent. Das ging auch auf die vielen jüdischen Sachverständigen zurück, die sich wie Poliakov fragten, warum sie ermordet werden sollten. Franz Neumann, der Rechtsexperte der Frankfurter Schule, war ebenso an der Planung der Prozesse beteiligt wie Raphael Lemkin, der Erfinder des Begriffs Genozid.

Dass der Holocaust in Nürnberg allgegenwärtig war, lag jedoch auch an seiner Bedeutung für das Naziregime: Es gab, wie Poliakov schreibt, „keine deutsche Behörde und kein Dossier, in denen sich nicht irgendwelche Hinweise dazu finden ließen“. Deshalb gehören die Prozessunterlagen auch zu den zentralen Quellen der frühen Holocaustforschung.

Dennoch hat Poliakov keine Tätergeschichte geschrieben. Im Unterschied zu anderen Forschern erlag er nicht der Sogkraft der deutschen Akten. Er nahm an keiner Stelle die Perspektive der Mörder ein. Stattdessen gelang ihm das Kunststück, mit den Dokumenten der Täter an die Opfer zu erinnern, wie sein Freund, der Philosoph Alexandre Kojève, einmal sagte. Auch das dürfte dazu beigetragen haben, dass Poliakovs Buch erst so spät ins Deutsche übertragen wurde.

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