Rassistische Forschung in Kiel: Die Tradition der Schädel-Messer

Auch nach der Nazizeit wirkten NSDAPler am Kieler Institut für Anthropologie als Professoren. Ihr Denken war verwurzelt in der Rassen-Ideologie.

Bilder unterschiedlicher Schädel aus Johann Blumenbachs Werk "Über die natürlichen Verschiedenheiten im Menschengeschlechte", auf dem die rassistische Anthropologie fußte

Im 18. Jahrhundert etablierte Johann Blumenbach die Praxis, Schädelformen rassistisch zu deuten Foto: Blumenbach, Die natürlichen Verschiedenheiten, 1798

BREMEN taz | Weggebombt hatten alliierte Fliegerverbände die zweifelhafte Einrichtung im August 1944. Aber aufgehört zu sein, hat das einstige Anthropologische Institut der Universität Kiel erst viel später. Gleich nach dem Krieg hatte sich, gegen den erklärten Willen der medizinischen Fakultät, der bisherige Direktor Hans Weinert mit Lügen, irreführenden Unterlassungen und juristischen Mitteln den Lehrstuhl und den Weiterbetrieb bis 1955 gesichert.

Und offenbar hielten auch danach noch immer genügend Leute das, was dort getrieben wurde, für Wissenschaft: Sein 1968 gestorbener Nachfolger Johann Schaeuble war zuvor SA-Dozent für Rassenlehre gewesen. Dessen Erbe trat dann sein berühmtester Schüler an, Hans Wilhelm Jürgen Weise.

Der erste Direktor des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung hatte 1960 bei Schaeuble mit einer Arbeit über „Asozialität als biologisches und sozialbiologisches Problem“ habilitiert, die auch 1940 gut angekommen wäre. Unter seiner Ägide diffundierte das Institut dann in den 1990ern in einen archäologischen Zweig und einen, der sich Industrie-Anthropologie nennt.

Die überlieferten Archivalien und Dokumente aus der Frühzeit sind so dürftig, als hätte hier jemand sehr gründlich geputzt. Das erschwert zu sagen, wo die vermeintlichen Forschungsergebnisse dieses 1924 von Otto Aichel gegründeten Instituts eingesickert sind.

Ein Keller für die Leichen

In einem klotzigen Klinkerbau der 1870er hatte es 1929 eine feste Bleibe bekommen. Zuvor war es quasi in Untermiete bei der Anatomie einquartiert gewesen. Neben ein paar Kellergelassen für die Zentralheizung und die Leichen hatte man nun im zweiten Stock unter anderem zwei Labors, eine Dunkelkammer sowie das Röntgenzimmer zur Verfügung.

In der Beletage aber waren die Institutsleitung, der Hörsaal und, als Prunkstück, die 16 großen Sammlungsschränke mit Rasseschädeln untergebracht. Die hatte der in Chile als Kind deutscher Diplomaten geborene, in Celle aufgewachsene Gründungsdirektor teilweise selbst in Südamerika, na, sagen wir mal, erworben. „Die Einrichtung ist nach jeder Richtung hin recht vollständig“, teilte er in einem Aufsatz stolz der Fachwelt mit.

Das Interesse an diesem Standort war groß. Denn Anthropologie war nicht nur für Aichel identisch mit „Rassenbiologie“, wie er 1929 bekannte. Befremdlicherweise beteuert Medizinhistoriker Karl-Werner Ratschko noch 2013, der Kieler Professor habe auch „ernstzunehmende anthropologische Forschung“ durchgeführt.

Dabei hatte Aichel als Auftrag seiner Disziplin ausdrücklich die Suche nach „Klarheit über die rassenmäßige Zusammensetzung des Volkes, über den Einfluß von Auslese und Siebung, über Beziehung von Rasse und Befähigung“ bestimmt. Ihr „Endziel“ sei, „den Weg zur Erhaltung des wertvollen Erbgutes“ zu finden. Also „Eugenik, die gemeinhin als Rassenhygiene bezeichnet wird“, hieß es in der Rede zur Institutseröffnung. Im Jahr 1932 konkretisiert Aichel, was das heißt: „Schädlinge“ seien ohne Rücksicht „an der Fortpflanzung zu hindern“, schreibt er im Aufsatz „Die Rassenforschung“.

An der Arbeit des Instituts lässt sich exemplarisch zeigen, wie man etwas erforscht, das es nicht gibt: Man versachlicht den Gegenstand zu „anthropologischem Material“ und erhebt an diesem sinnlos, aber planvoll Daten, bis es in der Ausdeutung dieser Realitätssplitter in die Welt tritt – als Wissen. In diesem Fall wurden vor allem Schädel vermessen und verglichen.

Außerdem, aber das war dann eher eine Spezialität von Weinert, musste an anthropologischem Lebendmaterial (weiblich) durch Befühlen der Brüste die Zugehörigkeit zur semitischen Rasse ausgeschlossen werden, eine im Erfolgsfall kostenpflichtige Untersuchung. Dieses Geschäftsmodell ließ Weinert im Zusammenspiel mit Hans Calmeyer zum Judenretter avancieren.

Die Arbeit in Kiel hatte einen regionalen Schwerpunkt. Man suchte hier das, was Profi-Rassisten als nordischen Typus bezeichneten: Aichel brauchte Befunde für sein Hauptwerk, „Der deutsche Mensch“, das pünktlich 1933 erschien, sodass die Deutsche Gesellschaft für Anthropologie ihn prompt zu ihrem Führer machte. Die nötigen Messungen führten seine Assistenten durch.

Engagement für Zwangssterilisierungen

Sie schwärmten also Ende der 1920er aus, gingen auf Helgoland, in Schwansen, Eiderstedt, Dithmarschen und an der Schlei von Hof zu Hof, knipsten die Dörf­lmenschen frontal und im Profil, bestimmten deren Schulterbreite, Arm- und Beinlänge sowie den Jugomandibular-, den transversalen Nasofacial-, aber auch den Kefalofacialindex. Und noch viel mehr.

Um die Abweichung der Resultate von den geplanten Kopfform-Vorgaben zu heilen, erfand man einen neuen Unter-Typus, den nordisch-fälischen, der sich durch ein „abgesunkenes Hinterhaupt“ auszeichne und selbstredend auch nordisch war. Also arisch.

Glück für die Landbevölkerung. Denn bis zu seinem Tode 1935 engagierte sich Aichel am Kieler Erbgesundheitsobergericht für Zwangssterilisierungen. Auch sein Nachfolger Hans Weinert propagierte diese, zumal wenn es um Schwarze Menschen ging.

Er starb 1967 in Heidelberg, zwölf Jahre nach seiner Emeritierung. Noch 2012 hatte der Paderborner Salzwasser-Verlag sein 1944 gedrucktes Werk „Der Ursprung der Menschheit“ erneut herausgebracht. Die Nationalbibliothek hat es in der Sachgruppe 570 einsortiert, Biowissenschaften, Biologie.

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