Philosophische Lyrik: Laserlichter im Schwarz der Nacht
Mit ihrem neuen Gedichtband ist Marion Poschmann für den Leipziger Buchpreis nominiert. Er sperrt sich gegen den raschen Konsum.
Der Titel des neuen Gedichtbands von Marion Poschmann – „Geliehene Landschaften“ – ist programmatisch. Er geht zurück auf ein chinesisches Gartenhandbuch aus dem 17. Jahrhundert, in dem die Empfehlung ausgesprochen wird, bei Gestaltung eines Gartens immer auch Elemente einzubeziehen, die außerhalb des eigenen Projekts liegen – etwa die umliegenden Berge oder entfernte Pagoden. Wie die Autorin in einer Anmerkung schreibt, lasse sich auf diese Weise „auch auf kleinstem Raum die ganze Weite und Kraft der Natur evozieren“.
Die geliehene Landschaft ist das Leitbild dieses Buchs und verweist auf die ihm zugrunde liegende Überzeugung, dass alle menschliche Kulturanstrengung sich um des Poetischen willen auch immer wieder selbst zu relativieren habe. Der Berg, der als reine Gegebenheit in die vom Menschen bestellte Gartenanlage ragt, wird zur Irritation eines Denkens, das die Natur stets zu unterwerfen sucht.
Ein Gedicht, das auf den Frühaufklärer Leibniz anspielt, ruft aus: „O Großer Garten Benennung!“ Die Leistungen der Vernunft, welche die Dinge benennt, ist unbestritten, aber dichterisches Schreiben muss über sie hinausgehen und signalisieren, dass sich ihr immer auch etwas entzieht, was es gleichwohl zu bedenken gilt. „… und wieder ist das Gesehene größer als das Gedachte.“
Dieser Gedichtband ist philosophisch hochbewusst und sperrt sich gegen einen raschen Konsum, belohnt den Leser aber mit bestechenden Formulierungen und Einsichten. Dabei hält er zunächst einmal Reiseeindrücke der Dichterin fest. Sie besucht Kaliningrad, das frühere Königsberg, nimmt die Plattenbauten aus der Sowjetzeit in den Blick, sucht aber auch nach Spuren der deutschen Vergangenheit, nach den Philosophen Johann Georg Hamann und Immanuel Kant. Ein Kindergarten in dem Berliner Bezirk Lichtenberg wird besichtigt, der von der betonsüchtigen Naturferne sozialistischer Architektur zeugt.
Marion Poschmann: „Geliehene Landschaften. Lehrgedichte und Elegien“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016. 118 Seiten, 19,95 Euro.
Lunapark & Novalis
Poschmann hält sich in Coney Island auf, sieht den dortigen Lunapark und die Verwüstungen, die der letzte Hurrikan angerichtet hat. Im japanischen Matsushima wandelt sie auf den Spuren des Haiku-Dichters Bashō. Sie siedelt Texte in dem Literatengarten von Schanghai an, wo sie vor den bizarr geformten Steinen innehält. Sie sammelt Eindrücke aus dem Sibeliuspark in Helsinki. Dazu gibt es zwei Abschnitte, die keinem bestimmten Landstrich zuzuordnen sind: „Künstliche Landschaften“ und „Geliehene Landschaften“.
Poschmann hinterfragt sowohl den Status des Ichs als auch den seiner Erkenntnis: Kann das Ich als eine konsistente Instanz vorgestellt werden, und wie konsistent ist die Erkenntnis, die es liefert? An anderer Stelle hat die Autorin einmal geschrieben, das Ich sei eine Leerstelle, die nicht zu beruhigen, sondern offenzuhalten Aufgabe der Kunst sei.
Im vorliegenden Gedichtband formuliert sie: „Du bist am Ziel, stehst inmitten der Dinge, / die Raum einnehmen, / um deine Uferlosigkeit einzudämmen.“ Der Satz macht deutlich, dass Poschmann an Frühromantiker wie Schlegel und Novalis anknüpft und das Ich als Unendlichkeit fasst, die immer wieder im Kontakt mit konkreten Gegenständen begrenzt werden muss. Dem Ich wird hier eine wolkenhafte Unfassbarkeit gewährt, die es jeder idealistischen Verklärung zur Substanz entzieht; zugleich darf es sich in seiner Fähigkeit erweisen, die Phänomene hellwach in schaudern machender Berührung zu streifen.
Dem Selbst misstrauen
Die Gedichte werden im Untertitel als Lehrgedichte vorgestellt. Was sie lehren, ist insbesondere das Misstrauen, das dem menschlichen Hang zur Selbstvergewisserung entgegengebracht werden muss. Das Denken ist aufgefordert, sich der Andersheit des Gegenstands zu öffnen. Spiegelung mag der Normalfall sein, aber sie ist immer wieder aufzulösen: „Ist das dort Regen hinter dem Fenster, oder doch nur deine Spiegelung, die sich bewegt?“
Erkenntnis winkt erst, wenn das Subjekt sich von sich selber abwendet: „Du musst haushalten können mit deinem eigenen Anblick, bevor du beobachtest, was sich rar macht. Mondphantom. Ichphantom.“ Zwar dürfte die Einfühlung wohl unvermeidlich und gelegentlich auch produktiv sein, aber sie setzt eine Identität zwischen Anschauendem und Angeschauten, die letztlich irreführt. „Du versuchst es mit Einfühlung, aber die Wälder ziehen sich weiter zurück in die Abgründe deines Bewusstseins.“
Die literarische Konstruktion der Objektwelt gehorcht einer ähnlichen Problematisierung. Poschmann hat sich von der Ästhetik des Fernen Ostens anregen lassen und begnügt sich mit Suggestion, statt auf Vollständigkeit der Darstellung zu zielen. Die Verse sollen die Stimmung etwa von Bambuslaub erzeugen und zu diesem Zweck die Stängel nicht zur Gänze abbilden. Der Bambus erscheint auf diese Weise als „ein enthusiastisches Zittern im Nichts“.
Ein Fangnetz aus Lametta
Der Verzicht auf Kohärenz wird zum Schreibprinzip. Die einzelnen sprachlichen Ausdrücke werden auf unlogische Weise aneinandergereiht. Die Wirklichkeit tritt zu keiner Einheit mehr zusammen; sie ist nachtschwarz, wird aber wie von einer Vielzahl punktueller Laserlichter zum Funkeln gebracht. Erst in der Dispersion von Sinn kommt es zu ästhetischer Erfahrung. Das Gedicht wird zum „Fangnetz aus dünnem / Lametta, das dich zappeln lässt in der Dunkelheit.“
Was sich dem Ich entzieht, bildet einen geheimnisvollen Rest. Die Dichterin macht darauf aufmerksam, dass der Mensch diesen Rest niemals in seine Sprache übersetzen und seinem Verständnis zuführen kann. Er kann nur wissen, dass ein solches Verständnis einer rauschhaften Erfahrung von Weite gleichkäme. Poschmann zitiert aus der Apokalypse und schreibt: „‘Siehe, er kommt mit den Wolken!‘ Es bleibt ein / unübersetzbarer Rest. Den Rest niemals denken können. / Der Rest wäre das, was dem Geist widerfährt, wenn er fliegt.“
Was aber nie zum Gegenstand von Gewissheit werden kann, kann sehr wohl durch die Arbeit des Dichters angestrebt werden. Das wird an anderer Stelle deutlich. Die dichterische Anstrengung wird immer wieder in Vergeblichkeit münden, aber sie wird gleichzeitig Ausblicke auf die Weite öffnen. „Was also / ist Arbeit? Die Produktion von Flug und Vergeblichkeit.“
Begegnung mit der Katze
Poschmann ist nicht nur philosophisch reflektiert, sondern überzeugt vor allem als Dichterin, die mit Sprache umzugehen und Wirklichkeit treffsicher zu evozieren weiß. Dass sie beides verbindet, Reflexion und Poesie, macht ihren Rang aus. Überscharf etwa ist das Bild der Kinder, die sich frühmorgens „wie Verschlussplatten vor einer Urnenwand / fest an die Hand ihrer Mutter heften“. Eine präzise Vorstellung vermittelt die Formulierung: Fledermäuse „klatschen ledrig auf die Marmortreppen“.
Oder man lese, wie hier die Gier des Windes beschrieben wird, der an den Zweigen rüttelt: „… ein Wind, der schreit, ein Wind, der hier / noch einmal Heimat findet, alle Köder / aus den Zweigen frisst.“ Ein Eiswind aus Sibirien wütet süchtig in den Zweigen, die er als neue Heimat erachtet, und ist dabei doch selbst der Übermannte: er folgt den Zweigen, die ihn mit Ködern angelockt haben. Derlei ist von außerordentlicher Imagination.
Schön ist auch die Begegnung mit einer Katze, die nachts den Weg der Dichterin kreuzt. Um das Wesen des Tiers zu fassen, wird es in seiner Bewegung beschrieben; die Katze durchquert das Gelände, lässt es als Ausdehnung deutlich werden. „Ich bildete, groß, aber bodenlos, eine Figur / des Rests in ihrem Bewusstsein, sie aber blieb / das entscheidende Schwarz bei Nacht.“
Ein Schwarz, das vom Dunkel der Nacht kaum zu unterscheiden ist und trotzdem konturiert ein huschendes Katzen-Sein verkörpert. Der Leser wird vor eine jähe Evidenz geführt, die nach Begrifflichkeit verlangt, um der Evidenz willen aber nicht zum Begriff gerinnt. Von der Sprödheit des traditionellen Lehrgedichts keine Spur. Kein Zweifel: Marion Poschmann gehört zu den bedeutendsten Talenten der deutschsprachigen Gegenwartslyrik. Ihrem Buch sind viele Leser zu wünschen.
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