Philosoph zu Au­to­bahn­blo­ckie­re­r:in­nen: „Absichtlich rechtswidrig“

Klimaaktivisten blockieren Autobahnen und wollen Flughäfen stilllegen. Ist das noch legitim? Der Sozialphilosoph Robin Celikates sieht genauer hin.

Vier Aktivisten und ein LKW.

Sitzblockade im Hamburger Hafen, 21. Februar 2022 Foto: Fritz Engel

taz: Herr Celikates, durch Kohlebaggerblockaden, Waldbesetzungen und Schulstreiks vonseiten der Klimabewegung hat der Begriff des „zivilen Ungehorsams“ erneut an Aufmerksamkeit gewonnen. Seit Ende Januar blockieren Ak­ti­vis­t:in­nen der „letzten Generation“ fast täglich Autobahnen und nun auch Straßen im Hamburger Hafen. Was definiert zivilen Ungehorsam?

Robin Celikates: Zivilen Ungehorsam zeichnen vor allem zwei Elemente aus: Er hat im Unterschied zu legalen Formen des Protests einen absichtlich rechtswidrigen Charakter. Und er ist nicht bloß symbolisch, sondern greift auf eine disruptive Art und Weise in die tägliche Ordnung ein. Er soll Aufmerksamkeit generieren und die Dringlichkeit des Anliegens unterstreichen. Es handelt sich nicht um rein kriminelle Taten oder unmotivierte Randale, sondern um einen prinzipienbasierten Protest. Die Akteure berufen sich auf anerkannte moralische, politische, zum Teil rechtliche Prinzipien und wollen bestimmte Veränderungen erreichen. Im Unterschied zu einem militanten Aufstand sind die Aktionsformen dabei, auch wenn sie vielen radikal erscheinen, ziemlich gemäßigt und verzichten auf organisierte Gewalt.

Ricarda Lang findet zivilen Ungehorsam legitim, solange es friedlich ist. Ihrer Definition zufolge ist er doch immer friedlich?

ist ein deutscher Philosoph und Sozialwissenschaftler. Er ist Professor für Praktische Philosophie mit den Schwerpunkten Sozialphilo­sophie und Anthropologie am Institut für Philosophie an der Freien Universität Berlin.

Das Wort „zivil“ wird manchmal so interpretiert, dass ziviler Ungehorsam gewaltlos oder friedlich sein muss. In Deutschland kann eine Sitzblockade – eigentlich ein paradigmatisches Beispiel für gewaltfreien Ungehorsam – jedoch als eine gewaltsame Nötigung aus Sicht des Strafrechts erscheinen. Moralische Helden wie Martin Luther King oder Gandhi, die heute für friedlichen Ungehorsam stehen, wurden zu ihrer Zeit als gewaltsame Terroristen diffamiert. Heute sieht man ähnliche Dynamiken. Für mich ist eine Blockade auf der Autobahn zunächst einmal eine friedliche Form des Protestes. Nur weil Leute auf zum Teil natürlich sehr unangenehme Weise in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden, ist das nicht per se gewaltsam. Man muss also genau prüfen, was mit „friedlich“ und „zivil“ jeweils gemeint ist.

Henry David Thoreau, Begründer des heutigen „zivilen Ungehorsams“, sagte: „Nur eine einzige Verpflichtung bin ich berechtigt einzugehen und das ist jederzeit zu tun, was mir gerecht scheint.“ Der „Aufstand der letzten Generation“ besteht aus vielleicht höchstens 100 Leuten in ganz Deutschland. Welche Legitimation hat ihr ziviler Ungehorsam?

Dieses Thoreau-Zitat ist bedenklich und weist auf die Gefahren eines individualistischen zivilen Ungehorsams hin, bei dem es egal ist, ob man sich auf geteilte Prinzipien bezieht oder andere überzeugen kann. Auch Hannah Arendt kritisierte das scharf: „Woher weiß ich, dass du ein moralischer Held und kein Fanatiker bist? Du musst deine Prinzipien auch im Dialog mit anderen erläutern.“ Die Ak­ti­vis­t:in­nen tragen die Verantwortung, ihre Gründe darzulegen und zu erklären, warum ziviler Ungehorsam der einzige Weg ist, dafür einzustehen. Der Ungehorsam kann sich ja sogar auf Prinzipien berufen, die im Grundgesetz verankert sind, wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, soziale Gerechtigkeit oder die Verantwortung für zukünftige Generationen. Über diese Prinzipien besteht erstmal kein Dissens. Nur haben die Protestierenden eine viel weitergehende Interpretation, zu was uns diese Prinzipien konkret verpflichten, und weisen darauf hin, dass die aktuelle rechtliche Lage und die politischen Verhältnisse weit hinter diesen Selbstverpflichtungen zurückbleiben.

Zu sagen: Wir blockieren Autobahnen, bis das Essen-Retten-Gesetz steht. Ist das nicht Erpressung?

Der Vorwurf trifft nicht. Erpressung heißt, anderen durch Androhung von Gewalt oder tatsächliche Gewalt etwas abzunehmen, um sich selbst zu bereichern. Die Ak­ti­vis­t:in­nen wollen ja kein Lösegeld von Olaf Scholz. Sie wollen, dass im allgemeinen Interesse der jüngeren Generationen gehandelt wird. Die Diffamierung als Erpressung, die man aus der Bild-Zeitung oder konservativen Kreisen kennt, geht an der Realität des Protestes vorbei. Die Ak­ti­vis­t:in­nen wollen die Politik zum Handeln bewegen, indem die Kosten durch Blockaden in die Höhe getrieben werden. Wenn man keine zusätzliche Überzeugungsarbeit leistet, riskiert man aber den Vorwurf der Nötigung. Deswegen muss man auch versuchen, zu überzeugen. Das wird bei den Leuten in den Autos natürlich schwer sein, auch wenn deren Reaktionen sicher gemischt sind. Es geht um die breite Öffentlichkeit.

Kann ziviler Ungehorsam, der in der Gesellschaft zu viel mehr Unmut führt als Überzeugung, überhaupt effektiv sein, um seine Ziele zu erreichen?

Die Frage ist: Was ist das Ziel, und bringt dieses Mittel uns dem Ziel näher? Bringt man die Autofahrer auf die eigene Seite? Eher nein. Bekommt man viel mediale Aufmerksamkeit? Ja. Insofern ist die Strategie aufgegangen. Allerdings wird zu wenig über das gerechtfertigte Ziel gesprochen. Alle reden über den Krankenwagen, der nicht durchkommt und über die schwangere Frau. Das liegt auch daran, dass der genaue Zusammenhang zwischen der Blockade der Autobahn und dem Anliegen nicht auf der Hand liegt, wie es zum Beispiel bei einer Castor-Blockade der Fall ist. Wenn es bei der Diskussion nur noch um die Skandalisierung der Mittel geht, muss man sich überlegen, ob es andere bessere Adressaten für Blockaden gäbe, etwa Lebensmittelkonzerne oder Ministerien.

Darf die Regierung überhaupt nachgeben? Besteht nicht die Gefahr, dass trotz gerechtfertigter Forderungen bei Erfolg der Aktionen je­de:r anfängt, für seine individuellen Überzeugungen und Ziele zu solchen Mitteln zu greifen und unsere Infrastruktur kollabiert?

Es braucht schon eine sehr starke moralische Überzeugung, um die Risiken des Ungehorsams in Kauf zu nehmen und sowas auch durchzuziehen. Viele Errungenschaften der Demokratie, die wir heute für gegeben halten, sind Ergebnis genau solcher Kämpfe. Sie haben dazu geführt, dass heute Frauen gleiche Rechte haben wie Männer oder Mi­gran­t:in­nen mehr Rechte als vor ein paar Jahrzehnten. Sowas passiert meistens nicht aus Eigeninitiative des politischen Systems heraus, sondern muss auf den Straßen erkämpft werden. Daher ist ziviler Ungehorsam ein wesentlicher Bestandteil der Demokratie, ja der Demokratisierung der Demokratie. Die Regierung soll ja auch nicht einfach nachgeben, sondern auf die inhaltlich richtige Argumentation eingehen und daraus die richtigen Schlüsse ziehen. Das ist kein Eingeständnis von Schwäche. Frankreich ist auch nicht untergegangen, nur weil es dort ein Gesetz gibt, das das Wegwerfen von Lebensmitteln verbietet.

Eigentlich möchte man meinen, dass man gerade in Demokratien eben keinen zivilen Ungehorsam braucht. Ist er ein Zeichen dafür, dass etwas nicht stimmt an der Demokratie?

Die Demokratie ist erstmal die Idee einer politischen Gemeinschaft, in der sich der Demos, das Volk selbst regiert. In der Realität haben wir komplexe Massengesellschaften, in denen diese Idee durch ein sehr kompliziertes politisches System der Repräsentation umgesetzt wird. Es kommt unweigerlich zu Demokratiedefiziten. Bestimmte Akteursgruppen sind formal ausgeschlossen. So dürfen unter 18-Jährige nicht wählen. Nicht alle Akteursgruppen haben dieselben Ressourcen. Es gibt Lobbyismus hinter den Kulissen, Sichtweisen, die an den Rand gedrängt werden, und Gruppen von Menschen, die nicht ernst genommen werden. Deswegen gehören Formen des Protests wie ziviler Ungehorsam, die den Staat daran erinnern, dass er eigentlich nur der Selbstregierung der politischen Gemeinschaft dient und nicht umgekehrt, wesentlich zur Demokratie und sind keine antidemokratischen Praktiken.

Ziviler Ungehorsam ist also kein Zeichen von Frust innerhalb der Klimabewegung?

Klar, man greift zu diesem Mittel nur dann, wenn man anders nicht weiterkommt. Ungehorsam sollte aber nicht so negativ betrachtet werden, denn er zeugt von der Lebendigkeit der Idee der Demokratie und nicht allein von Frust oder Ausweglosigkeit. Natürlich gibt es in Black Lives Matter oder der Klimabewegung das Gefühl, es wird schon so lange über die Probleme geredet und es passiert einfach nichts. Das ist eine sehr frustrierende Erfahrung. Zugleich reihen sie sich in eine lange Geschichte des gar nicht so erfolglosen Protests und Ungehorsams ein, die wir heute in ihrem demokratischen Wert anerkennen wie die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung oder die Frauenbewegung. Sofern unsere Demokratie demokratisch zu nennen ist, verdanken wir das wesentlich diesen Bewegungen. Und die Klimabewegung hat es geschafft, den politischen und öffentlichen Diskurs zu verändern. Das Verständnis für Aktionen wie Autobahnblockaden ist trotz aller Schwierigkeiten viel höher als vor ein paar Jahren.

Wie hoch ist die Gefahr, dass sich Gruppierungen, die zivilen Ungehorsam ausüben, der nicht zum Erfolg führt, noch weiter radikalisieren?

Die Klimakrise wird sich auf jeden Fall in den nächsten Jahren und Jahrzehnten massiv zuspitzen, egal welche Maßnahmen die Politik heute auf den Weg bringt. Politische Konflikte werden sich somit auch zuspitzen. Umso mehr, je mehr der Eindruck entsteht, die Politik begreife den Ernst der Lage nicht. Aber ich sehe momentan wenig Anzeichen für die an die Wand gemalte Radikalisierung. Es gibt keine grüne RAF, keinen Ökoterrorismus und bisher keine Anzeichen dafür, dass die Leute in den Untergrund gehen. Es ist aber wichtig, dass die Bewegung selbst frühzeitig Radikalisierung in die falsche Richtung erkennt und der Idee und Praxis des Ungehorsams als Teil der Demokratie verpflichtet bleibt.

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