Pflegereform in Großbritannien: Johnson bricht Wahlversprechen
Das britische Unterhaus sagt ja zur Pflegereform. Dafür werden die Sozialversicherungsbeiträge erhöht.
Die kontroverse Erhöhung, welche Brit*innen eine der höchsten Steuerlasten seit dem Zweiten Weltkrieg bescheren würde, rechtfertigte Premier Johnson mit der nicht vorhersehbaren Corona-Pandemie. Diese verschlimmerte viele bereits bestehende Probleme im NHS. So verdoppelte sich die bisherige 25-wöchige durchschnittliche Wartezeit für Operationen und manche aufwendigere Behandlungen auf fast 44 Wochen.
Die Überlebenschancen im Vereinigten Königreich sind für viele Leiden wie Krebs und Herzkrankheiten seit langem unter den niedrigsten in Europa. Die Sozialpflege ist seit Jahrzehnten unzureichend bezahlt. Viele Menschen erhalten entweder zu wenig oder zu mangelhafte Pflege – oder müssen dafür finanziellen Ruin in Kauf nehmen.
Doch viele fragen sich, ob die Steuererhöhung tatsächlich die Jahrzehnte alten Probleme insbesondere im Pflegesektor zu lösen vermag. In den nächsten drei Jahren sollen von den umgerechnet 42 Milliarden Euro neuen Einnahmen erst einmal nur umgerechnet sechs Milliarden Euro in den Pflegebereich fließen. Der Rest werde benötigt, um den NHS-Behandlungsrückstand aufzuholen.
Tory-Abgeordneter Jake Berry
Nach Studien der Wohltätigkeitsorganisation Health Foundation würde der Pflegebereich umgerechnet 10,8 Milliarden Euro pro Jahr zusätzlich zur derzeitigen Finanzausstattung benötigen. Johnson will dem Sektor erst nach drei Jahren mehr Gelder zuschieben. Viele halten das aufgrund des sich stets verteuernden NHS-Systems für unwahrscheinlich.
Hauptschlagzeile in vielen britischen Medien war am Donnerstagmorgen der Hinweis, dass die NHS 42 neue Exekutivposten mit Löhnen von bis zu umgerechnet 314.000 Euro pro Jahr neu besetzten möchte.
Labour kritisiert Ungerechtigkeit für Jüngere
Der konservative parlamentarische Hinterbänkler Jake Berry, der auch Vorsitzender einer lauten Gruppe von konservativen Abgeordneten aus dem Norden des Landes ist, fasste seine Sorgen über die Steuererhöhung in der Debatte zur Erhöhung aus solchen Gründen so zusammen: „Ein Fass ohne Boden wird nicht besser, weil es die Aufschrift des NHS trägt.“ Er forderte Johnson auf, Einzelheiten seines Planes zu veröffentlichen, um Verschwendung zu verhindern.
Labours Parteiführer Keir Starmer bezeichnete die Maßnahmen deswegen wiederholt als Heftpflaster über einer klaffenden Wunde. Seine Partei und viele Gewerkschaftsprecher*innen kritisieren, dass die Steuer ungerecht vor allem jüngere Generationen belasten würde, etwa das Einkommen von Supermarktangestellten und Krankenpfleger*innen im Gegensatz zu Wohlhabenden, die mehrere Häuser besäßen, und für die keine weitere Besteuerung auf ihr Vermögen anfalle.
„Wir fordern, dass jene mit kräftigen Schultern die Kosten tragen müssen“, sagte Starmer im Unterhaus. Johnson konterte, dass die Hälfte der neuen Einnahmen von den 14 Prozent der am meisten Verdienenden gedeckt werden würde.
Mit wenig Ausnahmen musste sich Johnson jedoch auch die Kritik nahezu aller Verbände des britischen Pflegesektors gefallen lassen. Sie fordern nicht nur Geld, sondern eine vollkommene Überarbeitung des Sozialpflegesystems.
Der Druck auf die Johnson-Regierung, vorzeigbare Ergebnisse zu liefern, ist immens. Die Erhöhung muss noch durch verschiedene parlamentarische Prüfstadien. Bleibt es dabei, könnten die Entscheidungen dieser Woche Johnsons politische Zukunft besiegeln – mehr als sein Handeln zum Brexit oder in der Pandemie.
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