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Pflegende AngehörigeFragwürdige Kontrolle

Gastkommentar von Gabriele Brasse

Kameras in der Wohnung von Demenzkranken bedeuten einen massiven Eingriff in ihre Privatsphäre. Und sie fördern die zwischenmenschliche Distanz.

Für die an Demenz erkrankten Menschen ist der direkte Kontakt sehr wichtig. Eine Kamera in der Wohnung bringt ihnen nichts Foto: Daniel Naupold/dpa

D ie Zahl demenzkranker Menschen in unserer Gesellschaft ist groß und sie nimmt weiter zu. Gemäß epidemiologischer Daten von 2023 wurde ihre Anzahl in Deutschland zuletzt mit 1,8 Millionen angegeben. Viele dieser oft betagten Personen leben allein. Häufig wollen sie ihre Wohnung und damit ihre vertraute Umgebung nicht verlassen. Krankheitsbedingt sind die Betroffenen jedoch auf umfassende Unterstützung im Alltag angewiesen.

Demenzkranke Menschen benötigen regelmäßige Erinnerungs- und Orientierungshilfen. Sie müssen an Essen, Trinken und das Wechseln ihrer Kleidung erinnert werden – oder sie brauchen schlicht Hilfe bei der Einordnung einer ins Wanken geratenen Realität. Viele Angehörige können oder wollen eine derart engmaschige Betreuung und Fürsorge nicht leisten. Dem Einsatz professioneller Pflegekräfte sind dagegen häufig personelle oder finanzielle Grenzen gesetzt.

Das hieraus entstehende Betreuungsdilemma rührt am Verantwortungs- und Pflichtbewusstsein – und auch an moralischen Überzeugungen. Mitunter entscheiden sich die Angehörigen in dieser Situation, die Demenzkranken mittels einer Videokamera in ihrer Wohnung zu überwachen. Sie versprechen sich hiervon eine Verbesserung der Sicherheit und damit der Lebensqualität der Betroffenen. Aber ist dem so zuzustimmen?

Für die Demenzkranken bedeutet die Videoüberwachung eine mehr oder minder lückenlose Aufzeichnung ihres Alltags in den eigenen vier Wänden. Der Kameraeinsatz stellt damit einen massiven Eingriff in ihre Privatsphäre dar. Durch diese Maßnahme wird ihr Recht auf Würde, Intimität sowie ihr Recht am eigenen Bild verletzt. Problematisch ist, dass die Betroffenen krankheitsbedingt selbst nicht mehr in der Lage sind, die Konsequenzen des Technikeinsatzes kritisch zu hinterfragen.

Gabriele Brasse

hat Medizinethik studiert und ist Fachärztin für Neurologie mit dem Schwerpunkt Altersmedizin. Ihr besonderes Interesse gilt der Schnittstelle zwischen Versorgungsmedizin und theoretischen Konzepten zu Mensch-Maschine Interaktion.

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Überwachende und Überwachte

In der Regel haben sie die Vertretung ihrer Wünsche und Interessen mit einer Vorsorgevollmacht in die Hände von Angehörigen gelegt, die dann die Kameras installieren. Für den Fall fehlender Geschäftsfähigkeit wird hier vorab verfügt, wie und in welchem Umfang die Person ihre Interessen vertreten soll. Bei der Entscheidung für eine Videoüberwachung stellt sich jedoch die Frage, ob die Angehörigen diesem Auftrag gerecht werden oder ob sie an dieser Stelle eher ihren eigenen Wünschen folgen.

Im öffentlichen Raum gilt für den Gebrauch von Videotechnik gemäß Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), dass eine Überwachung „erforderlich, zweckmäßig und verhältnismäßig sein muss. Die Verhältnismäßigkeit wird hier entlang der Verletzung elementarer Persönlichkeitsrechte der Beobachteten definiert. Der private Raum ist hingegen eine rechtliche Grauzone, in der die DSGVO nicht greift. Dennoch muss die berechtigte Frage lauten: Was bringt die Kameraüberwachung den Betroffenen? Heiligt der Zweck hier wirklich die Mittel?

Eine Videoaufzeichnung kann keine vergessene Herdplatte verhindern und auch nicht, dass eine Person in der Wohnung stürzt. Weder wird Orientierungs- oder Hilflosigkeit unterbunden, noch wird den Ängsten der Betroffenen begegnet. Eine „anlassbezogene“ Auswertung des Bildmaterials, wenn beispielsweise die Betroffenen nicht ans Telefon gehen, oder der Kontrollblick am Nachmittag, nützt nur den Beobachtenden. Ein Mensch, der hilflos auf dem Boden liegt, wird immer erst im Nachhinein entdeckt werden.

Nichts, was nicht auch ein Pflegedienst, der zweimal am Tag die Medikamente bringt, bewältigen würde. Auch eine wohlmeinende Videoüberwachung wird sich auf die Beziehung der Beteiligten auswirken: Aus den demenzkranken Personen und ihren Angehörigen werden Überwachte und Überwachende. Eine Begegnung wird zumindest vorübergehend durch eine Beobachtung ersetzt. Es ist nicht vorhersehbar, wie sich menschliches Verhalten im Laufe einer Demenzerkrankung verändert.

Das Gespräch kann die Kamera nicht ersetzen

Oft fordern eine verschobene Einordnung der Realität oder sogar wahnhafte Überzeugungen der Betroffenen die Angehörigen stark heraus. Umso wichtiger ist es, im Gespräch zu bleiben. Es hilft den Betroffenen, wenn sie ihr Erleben und ihre Sorgen artikulieren und gemeinsam einordnen können. Nur so werden die häufig entstehenden Missverständnisse beseitigt, können Ängste eingefangen werden. Der Einsatz von Videotechnik deckt diese kommunikativen Bedarfe nicht.

Er befördert Distanz, Befremden und auch Sprachlosigkeit dort, wo eigentlich Nähe, Dialog und Körperkontakt gebraucht werden. Die Videoüberwachung kann keinen nachhaltigen Beitrag zur Sicherheit oder der Lebensqualität demenzkranker Menschen leisten. Möglicherweise trägt sie dazu bei, ein diffuses schlechtes Gewissen oder Kontrollwünsche der Betreuenden zu befrieden. Die Verletzung elementarer Persönlichkeitsrechte lässt sich damit jedoch nicht rechtfertigen.

Angesichts des Pflegenotstandes ist in den letzten Jahren viel Geld und Aufmerksamkeit in die Entwicklung von Assistenzsystemen, Robotern und Ortungstechnik investiert worden. In der Altersmedizin werden Sturzsensoren, Apps zur Ganganalyse und Roboter als Demenzbetreuer erprobt – um nur einige Beispiele zu nennen. Es scheint aktuell wichtiger denn je, zu prüfen, ob diese technologischen Entwicklungen tatsächlich unsere menschlichen Probleme lösen.

Die Omnipräsenz von Sensoren und die schiere Möglichkeit der dauerhaften Datenakquise sollte uns nicht vergessen lassen, zu hinterfragen, welchen Preis wir hierfür zahlen. Da der Einsatz von Technologie häufig Grundrechtseingriffe mit sich bringt, sollte er zukünftig in die Patient:innen- und Betreuungsverfügungen integriert werden. So könnte gewährleistet werden, dass problematische Themen wie ein GPS-Tracking, eine Datensammlung oder sogar ein Kameraeinsatz frühzeitig mit den Betroffenen kommuniziert und abgewogen werden.

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