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Performance im Hebbel am Ufer BerlinMit bohrenden Geräuschen

Nicoleta Esinencus „Sinfonie des Fortschritts“ thematisiert illegale Arbeitsbedingungen und Ausbeutung. Nach der Premiere tourt die Performance.

„Sinfonie des Fortschritts“ mit Kira Semionov, Doriana Talmazan, Artiom Zavadosky Foto: Dorothea Tuch

Alles, womit dieses Theater arbeitet, hat eine reale Geschichte. Die Lampen der Lichtinstallation im Rücken der Performer kommen aus einem sowjetischen Werk, das nicht mehr existiert. Die Akkuschrauber, von denen verdächtig viele die Requisiten bilden, wurden von Ingenieuren neu konfiguriert, die als Freelancer auf einen neuen Auftrag warten.

Die Maschinchen sind jetzt zu Instrumenten geworden. Sirrend, rhythmusgebend und von latenter Penetranz begleiten sie die „Sinfonie des Fortschritts“, die sich mit diesem Prolog über die Herkunft ihrer Requisiten schon mal geografisch und ökonomisch verortet: Es geht um Osteuropäer und die Verlierer der wirtschaftlichen Entwicklung.

Der Maschinensound passt gut zu dem Stück der moldawischen Autorin und Regisseurin Nicoleta ­Esinencu, das in all seinen Phasen von der Arbeit erzählt, von Ausbeutung und von ungerechter Entlohnung. Schon ihr Stück „Requiem für Europa“, das Esinencu 2019 ebenfalls am HAU 1 (Hebbel-Theater) in Berlin rausbrachte, basierte auf Studien zur Armut und auf Interviews mit Fabrik- und Saisonarbeitern in Moldawien, als das Land wegen seiner niedrigen Löhne bei internationalen Investoren beliebt geworden war – die Löhne aber zum Leben nicht reichten.

„Sinfonie des Fortschritts“ schrieb sie, als sie während des ersten Lockdowns 2020 in Berlin nach einer Künstlerresidenz am HAU festsaß und die Medien über die katastrophalen Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigranten bei Westfleisch und auf den Spargelfeldern berichteten.

In Russisch oder moldawischem Rumänisch mit Untertiteln

So besteht das Stück unter anderem aus Protokollen: von einem osteuropäischen Studenten der Wirtschaftswissenschaft, der für Amazon Pakete ausfährt, die Topografie der Toiletten von Baustellen genau im Kopf hat, um bei Harndrang Zeit zu sparen. Trotzdem kann er den Zeitplan, den Algorithmen für die Auslieferung errechnet haben, nie erfüllen und die vielen Überstunden werden ihm nicht bezahlt.

Die Performance

Weitere Termine: 21./22. Januar im Theater Rampe in Stuttgart. 28./29. Januar im FFT Düsseldorf. 10./11. Februar in Dresden-Hellerau

Und von einer moldawischen Übersetzerin, die Verdienstausfälle im Lockdown mit Gurkenernten in Finnland zu überbrücken suchte und keine Hilfe fand, als sie sich gegen die illegalen und ausbeuterischen Bedingungen wehren wollte.

Diese Erzählungen, in Russisch oder moldawischem Rumänisch vorgetragen und in englische und deutsche Übertitel übersetzt, sind nüchtern erzählt. Und doch schrauben sie sich in rhythmisierten Sätzen, von den Maschinengeräuschen akzentuiert, mit Druck nach vorn und sind voller Dringlichkeit.

Dazwischen hat die Autorin Textblöcke geschrieben mit Listen, etwa von Dingen, die die Protagonisten gerne stehlen würden: „die Überwachungstechnik / das Vermögen der Kirchen / Ferienhäuser / […] eine Aufenthaltsgenehmigung / eine Arbeitsgenehmigung /einen Nachweis für Deutschkenntnisse B2 / eine doppelte Portion Käsespätzle mit Zwiebeln“. Und damit ist man ziemlich schnell im Kopf in den Geschichten der Arbeitsmigranten angekommen.

Abrechnung mit dem Westen, Europa und dem Kapitalismus

Nicoleta Esinencu ist auf der einen Seite eine Sprachkünstlerin, die mit Stichworten und Begriffen, in eine musikalische Struktur gebracht, einerseits einen weiten Gedankenhorizont aufreißt und andererseits eine Verfasstheit nachempfinden lässt, in der fortgesetzte Demütigungen, Ungerechtigkeiten, Herabsetzungen, die Teil der wirtschaftlichen Strukturen sind, zu einer permanenten Wut führen.

Ihr Text ist auch eine scharfe Abrechnung mit dem Westen, mit Europa, mit dem Kapitalismus. Man muss die Einseitigkeit ihrer Schuldzuweisungen nicht teilen, um dennoch von den Geschichten betroffen zu sein. Vor allem aber ist es die ästhetische Form, die besticht. Sachlich, reduziert, dann aber auch wieder mit polemischem Witz.

Eine lange Textpassage setzt sich mit dem auseinander, was als zivilisiert gilt und greift dabei die Ambivalenzen in unseren Wertmaßstäben an. „Es ist zivilisiert, Erdbeeren zu essen, aber es ist nicht zivilisiert, Erdbeeren zu ernten. Reisen ist etwas sehr Zivilisiertes, in anderen Ländern arbeiten als Migrant ist weniger zivilisiert.“

Die Inszenierung profitiert dabei auch von ihrer Vielsprachigkeit, denn dass man diese Sätze, während man sie im deutschen Übertitel liest, in anderen Sprachen hört, mit anderen Sprachmelodien, schafft auch ein Stück Distanz.

Nicoleta Esinencu ist dem HAU in Berlin und anderen Produktionshäusern in Europa seit vielen Jahren verbunden. In Moldawiens Hauptstadt Chișinău hat sie ein eigenes Theater, aber erfährt keine Unterstützung. Auf die Kooperation westlicher Institutionen angewiesen zu sein und dort mehr zu spielen als vor den Leuten zu Hause, für die sie ihre Stücke eben auch schreibt, trägt sicher zur Bitternis in ihrem Blick bei.

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