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Percival Everetts Roman „Dr. No“Nichts ist mit Zeit verwandt

Percival Everetts „Dr. No“ ist ein echter Nerdroman. Philosophische Gedanken und mathematische Exkurse fügen sich in einen Schurken-Plot ein.

Autor, Englischprofessor und Pulitzer-Preisträger: Percival Everett Foto: Basso Cannarsa/opale.photo/laif

Nichts ist der Running Gag dieses Romans. Auf so gut wie jeder Seite bekennt der Ich-Erzähler Wala Kitu, ordentlicher Professor für Mathematik an der Brown University, seine Leidenschaft für sein ungreifbares Forschungsgebiet: „Ich war ein Scharlatan. Ich hatte von nichts eine Ahnung“, „Ich studiere nichts“, „In Wirklichkeit treibt mich nichts ständig um“, et cetera.

Gelegentlich werden auch komplette Witze erzählt: „Ein Mathematiker wird gefragt, ob er lieber eine Tasse kalten Kaffee haben oder Gott begegnen möchte. Er sagt, er möchte den kalten Kaffee.“ Denn: „Man hat ihm gesagt, dass nichts besser ist, als Gott zu begegnen, und dass kalter Kaffee besser als nichts ist.“

Im April erst wurde der US-Autor und Englischprofessor Percival Everett für seinen Roman „James“, eine Neu-Erzählung von Mark Twains „Huckleberry Finn“ aus der Sicht des entlaufenden Sklaven Jim, mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.

Auch „Dr. No“, das nun drei Jahre nach seiner Veröffentlichung in den USA in der deutschen Übersetzung von Nikolaus Stingl erscheint, ist ein Konzeptroman mit einem Schwarzen Protagonisten – und doch ganz anders gelagert als Everetts perspektivisches Gegenstück zu Twains Schlüsselwerk der amerikanischen Literatur. Schon der Titel referiert (auch) auf James Bond. Doch mehr noch als eine Parodie auf die Agentenromane von Ian Fleming ist „Dr. No“ ein Nerd­roman – und nerdigerweise ein Stück Metafiction, das permanent über Logik und Sprache nachdenkt.

Das Buch

Percival Everett: „Dr. No“. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, München 2025. 320 S., 26 Euro

„Nichts“ auf Tagalog und Swahili

Ein Thema des Buches ist beispielsweise die linguistische Basisunterscheidung von Bezeichnetem und Bezeichnendem, mit dem Everett so seine Scherze treibt. Der Ich-Erzähler heißt nämlich bürgerlich Ralph Townsend, sein mathematischer Künstlername setzt sich jedoch aus zwei Wörtern für nichts zusammen: „Wala ist Tagalog für nichts, allerdings bin ich kein Filipino. Kitu ist Swahili für nichts, allerdings stammen meine Eltern nicht aus Tansania.“

Auch Walas Kollegin, die Differenzialtopologin (bitte googeln Sie selbst) Eigen Vector, hat einen mathematisch sprechenden Namen, genau wie sein einbeiniger Hund Trigo, dessen Name womöglich auf das Dreieck seiner fehlenden Beine verweist.

Auch die Differenzialtopologin Eigen Vector hat einen mathematisch sprechenden Namen, genau wie sein einbeiniger Hund Trigo

Mit dem hochintelligenten Trigo berät sich der Mathe-Prof in seinen Träumen; im Alltag hat Wala Schwierigkeiten, die Gesichter seiner Mitmenschen zu lesen, und verortet sich selbst als Asperger-Autist auf dem neurodiversen Spektrum. Später schenkt Wala Trigo einem Koch namens Leon Coltrane, nicht verwandt mit dem gleichnamigen Jazzmusiker, der das Tier umbenennt in Signifier. Nerdhumor!

Bewegung kommt in die Konstellation, als der Schwarze Milliardär John Milton Bradley Sill mit Wala zusammenarbeiten will und ihm, gewissermaßen zur Überzeugung, gleich mal einen Drei-Millionen-Dollarscheck ausstellt. Sill ist Sohn einer Nachtclubbesitzerin aus Memphis, bekennender Bond-Schurke und will „Amerika wieder zu nichts machen“. Die Kraft der Negation!

Der fette Clown – ein stabiles Arschloch

Der Name des Präsidenten fällt an keiner Stelle, aber es ist einigermaßen unmissverständlich, wenn Sill ankündigt: „Dieser fette Clown wird endlich das Nichts sein, das er schon immer ist. Ich habe es gehasst, jahrelang in seinen orangenen Arsch kriechen zu müssen. Stabiles Genie? Stabiles Arschloch.“

Dazu plant er in der Goldreserve von Fort Knox, Kentucky, Herkunft auch des „Grüßaugusts“ von einem Vizepräsidenten, eine rätselhafte Schachtel zu stehlen, die angeblich nichts beinhaltet. Naheliegend, dafür einen entsprechenden Fachmann anzuheuern, dem auch sofort klar ist, wie gefährlich nichts sein kann.

Wala ist zunächst nicht abgeneigt und folgt mit der ebenfalls engagierten Eigen Vector Sills Einladung nach Miami und Korsika. Zweifel kommen ihm zum einen, weil die nicht minder autistische Eigen ständig unter Drogen zu stehen scheint und er bemerkt, dass er mehr als kollegiale Freundschaft für sie empfindet. Zum anderen, als Sill die 90.000-Einwohner-Stadt Quincy in Massachussetts auf geheimnisvolle Weise verschwinden lässt, auch wenn das schwer nachweisbar ist, weil nichts sie zuvor dokumentiert hat.

Nichts ist Nichts ist Nichts

Hier kommen auch Laien der mathematischen Idee von nichts auf die Spur: Nichts ist mit Zeit verwandt, ist die Abwesenheit von Sprache: „Würden wir uns an alles erinnern, hätten wir keine Sprache für das Erinnern und Vergessen. Außerdem wäre nichts wichtig. Tatsächlich ist nichts wichtig. Die Wichtigkeit von nichts besteht darin, dass es der Maßstab dessen ist, was nicht nichts ist.“

Doch der Schurken-Plot ist für Everett vor allem das Gerüst eines wahren Feuerwerks philosophischer Gedanken und mathematischer Exkurse.

Lässig werden außerdem nebenbei wichtige Gegenwartsthemen wie Identity Politics oder rassistische Polizeigewalt gestreift, etwa wenn Walas Student, „der das Semester als Vanessa begonnen hatte und inzwischen ein Mann namens Sam war“, behauptet: „Es gibt keinen Unterschied zwischen den Geschlechtern. Abgesehen davon, dass ich jetzt Sam bin, hat sich nichts geändert. Nichts bleibt gleich.“

Gruselig komische Dialoge

Oder in einem gruselig komischen Dialog – Everetts ganz große Spezialität! – zwischen einem Polizisten, der den führerscheinlosen Wala im Auto anhält, und seinem Vorgesetzten, dem Wala beschattenden FBI-Agenten Bill Clinton: Obwohl Clinton den Polizisten immer wieder auffordert, Wala laufen zu lassen, wendet der Polizist zigmal ein: „Er ist Schwarz.“ Dass er keine Fahrerlaubnis hat, ist sekundär.

Auf der Langstrecke von 319 Seiten ist allerdings selbst die dauerfunkelnde Brillanz von Percival Everetts Denksport­olympiade ein wenig ermüdend. Jedenfalls für nicht ganz so nerdige Leserinnen, die sich gern auch mal faul identifizieren oder einen Plot entlangtragen lassen. Für Freunde abstrakter Kunst jedoch ist „Dr. No“ ein Fest der nicht abreißenden Anregungen und Pointen, die im Übrigen auf ein metaphysisches Ende zusteuern. Oder, in Abwandlung eines Ratschlags, den Wala seinem Studenten Sam erteilt: „Wenn Sie sich gerne den Kopf zerbrechen, lesen Sie’s!“

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