Parteitag der Berliner Grünen: Machtproben der Ultra-Realos
Bei ihrem Landesparteitag üben sich die Grünen in konstruktiver Krawalllosigkeit. Die Gräben zwischen Linken und Ultra-Realos überbrückt das nicht.
Die Unterstützung für den erfolgreichen Vergesellschaftungs-Volksentscheid von 2021 sei ja schön und gut, aber das könne die Partei ja nun beenden, forderten die „Grüne Realos Mitte“, kurz „Gr@m“, bei dem Parteitreffen. Das war nicht weniger als ein Frontalangriff auf den im Berliner Landesverband traditionell starken linken und enteignungsfreudigen Parteiflügel.
„Als Partei für Mieterinnen und Mieter müssen wir die Realitäten von heute anerkennen“, begründete Tarek Massalme aus dem Kreisverband Mitte für das umstrittene Ultra-Netzwerk „Gr@m“ vor den rund 150 Delegierten das von ihm beantragte Großreinemachen in Sachen „Deutsche Wohnen & Co enteignen“.
Schwarz-rote Argumente in „Gr@m“-grün
Massalme hatte sich schon in seinem dazugehörigen Parteitagsantrag auf „die finanziellen Risiken einer etwaigen Enteignung“ berufen. Es drohten „untragbare Belastungen für den Berliner Landeshaushalt“ und „drastische Einsparungen an anderer Stelle“, umso mehr, „wenn zugleich die Mieten subventioniert werden sollten“, heißt es in seinem Papier.
In seiner Rede auf dem Parteitag zauberte Massalme noch ein weiteres Argument aus dem Hut: „Vergesellschaftung dämpft keine Mieten, weil sie keine neuen Wohnungen schafft.“ In ähnlicher Weise haben sich bei vielen anderen Gelegenheiten so auch Senatschef Kai Wegner (CDU) und Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey (SPD) geäußert.
Zumindest der linke Flügel wollte beim Thema „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ erwartbarerweise weder den Antrag noch die Verteidigungsreden auf sich sitzen lassen.
Für die Parteilinken sagte Katrin Schmidberger, die wohnungs- und mietenpolitische Sprecherin der Grünen im Abgeordnetenhaus: „Ja, die Rahmenbedingungen haben sich verändert, sie sind nämlich für die Mieter:innen noch schlimmer geworden. Das heißt, wir müssen handeln, und zwar mit allen Mitteln.“ Dazu gehöre auch die Vergesellschaftung der Wohnungsbestände profitorientierter Immobilienkonzerne.
Linken-Antrag setzt sich durch
Schmidberger brachte dann auch einen eigenen Gegenantrag ein, in dem sich der Landesverband der Grünen noch einmal klar für die Umsetzung des Volksentscheids von 2021 aussprechen sollte. „Die Berliner:innen haben schon eine lasche, unzuverlässige Regierung, für die der Mieterschutz nur eine leere Worthülse ist, sie brauchen nicht auch noch so eine Opposition“, rief sie sichtlich angefressen Massalme und seinen Unterstützer:innen zu.
Der Antrag Schmidbergers bekam in der folgenden Abstimmung per Handheben schließlich eine Mehrheit von mehr als 70 Stimmen. Zugleich votierten aber immerhin auch über 50 Delegierte für den Antrag der „Gr@m“-Gruppe um Massalme. Obgleich sich die Parteilinken damit klar durchsetzten: Eine überwältigende Absage an den Kurs der auf Landesparteitagen bislang weitgehend einflusslosen Ultra-Realos sieht anders aus.
Der gut achtstündige Parteitag war das erste große Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Flügel und Kreisverbände seit der Chaos-Wahl einer neuen Landesspitze im Dezember vergangenen Jahres. Zur Erinnerung: Die ursprüngliche Kandidatin des Realo-Flügels fiel durch – und das drei Wahlgänge hintereinander: Tanja Prinz aus dem Kreisverband Tempelhof-Schöneberg scheiterte derart krachend, dass sie am Ende unter Tränen den Saal verließ. Der Parteitag wurde unterbrochen. Auch der zweite Platz in der Doppelspitze, für den erneut Parteichef Philmon Ghirmai kandidierte, blieb dadurch vorerst unbesetzt.
Bei einem nächsten Wahlgang mehrere Tage darauf holte mit Nina Stahr aus Steglitz-Zehlendorf eine Kandidatin der Realos zwar bereits im ersten Rutsch fast 90 Prozent der Delegiertenstimmen. Ghirmai wurde mit rund 74 Prozent wieder gewählt. Die Nerven lagen dennoch blank. Hier die Linken und die gemäßigten Realos, zu denen Stahr gehört, dort „Gr@m“. Letztere hatten Prinz unterstützt und erklärten sich nach ihrer Niederlage zu Opfern hinterhältiger Diffamierungskampagnen.
Aufarbeitung des letzten Chaos-Parteitags
Landeschef Philmon Ghirmai sagte am Samstag, er und Nina Stahr hätten seit Dezember „sehr konstruktive“ Gespräche geführt. Er sei froh, dass die Berliner Grünen in der Lage seien, „das Geschehene aufzuarbeiten“. Was wiederum zeige: „Wir machen als Partei unsere Hausaufgaben und wir arbeiten mit einem gemeinsamen Willen und großem Respekt an uns und unseren Strukturen.“
Tatsächlich versuchten sich die Delegierten im Estrel nach außen hin in Diszipliniertheit. Selbst die Debatte um „Deutsche Wohnen & Co enteignen“ – so engagiert die Redebeiträge waren – lief nicht aus dem Ruder, wie nach den Erfahrungen beim Parteitag im Dezember durchaus zu vermuten war.
Die Parteitagsregie hatte freilich auch ordentlich darauf hingewirkt, indem sie mit ihrem Leitantrag schwerpunktmäßig auf ein Thema setzte, das geeignet war, große Einigkeit herzustellen: der Kampf gegen AfD, Neonazismus, Antisemitismus, Rassismus, Antifeminismus und Queerfeindlichkeit, dazu ein konsequentes Vorgehen gegen Rechtsextremist:innen in Polizei, Justiz und Verfassungsschutz. Faktisch alles grüne Selbstverständlichkeiten.
Trotzdem gab es im Vorfeld sogar hier parteiinternen Knatsch zwischen dem linken Flügel und den „Gr@m“-Leuten. Während die Ultra-Realos die Arbeit des Verfassungsschutzes über den grünen Klee lobten, forderten die Linken und gemäßigte Realos eine grundlegende Neuordnung der Sicherheitsarchitektur auf Landesebene.
Nina Stahr erklärte in ihrer Rede, sie freue sich, dass es gelungen sei, die verschiedenen Positionen in einem modifizierten Leitantrag „zusammenzubinden“. Am Ende sei so „etwas wirklich Gutes“ rausgekommen.
Effektive Alternative zum Verfassungsschutz
„Es ist kein Geheimnis, dass wir den Verfassungsschutz kritisch sehen“, verdeutlichte Stahr noch einmal die Sichtweise des Landesvorstands, die genau so auch Eingang in die Neufassung fand. Das Lob des „unverzichtbaren Beitrags“ der Verfassungsschützer:innen, den „Gr@m“ unbedingt in den Leitantrag schreiben wollte, sucht man dafür vergebens.
So werben die Grünen nun für eine „effektive Alternative als Weiterentwicklung der bestehenden Verfassungsschutzarchitektur“. Mit dem Wort „Alternative“ als freundliche Umschreibung für Abschaffung des Verfassungsschutzes als Fernziel könne er leben, sagte am Rande des Parteitags ein Vertreter des linken Parteiflügels zur taz.
Konkret soll der Nachrichtendienst nach dem Willen der Landes-Grünen künftig in „zwei Säulen“ aufgespalten werden: ein unabhängiges Institut zum Schutz der Verfassung und ein von polizeilichen Aufgaben klar abgegrenzter nachrichtendienstlicher Verfassungsschutz. Denn klar sei: In seiner jetzigen Form habe der Verfassungsschutz zu oft nicht funktioniert.
Warum auch immer, „Gr@m“ revoltierte nicht. Der Leitantrag wurde ohne Gegenstimmen und bei nur vier Enthaltungen angenommen. Der Ausgang der Abstimmung über den Vergesellschaftungs-Volksentscheid zeigte gleichwohl eines: Der Samstag dürfte längst nicht das Ende der Debatte sein – und in der geht es um mehr als um den Volksentscheid „Deutsche Wohnen & Co enteignen“. Es geht um Macht im Landesverband.
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