Parlamentswahlen in Italien: Was wählen und wenn ja, wie viele?
Am Sonntag wird in Italien ein neues Parlament gewählt. Unsere deutsch-italienische Autorin lebt in Berlin und fragt: Lohnt sich Wählen überhaupt?
Wieder liegt ein dicker Umschlag im Briefkasten. Absender: Italienisches Generalkonsulat. Ich öffne ihn und lege den Inhalt auf den Küchentisch. Ein blauer und ein grauer Bogen, ein gelber und ein weißer Umschlag. Einen der Bögen falte ich auseinander, lese „Salvini, Berlusconi, Meloni“ auf grün-weiß-rotem Hintergrund, und möchte am liebsten alles wieder einpacken.
Ich bin Halbitalienerin und besitze die doppelte Staatsbürgerschaft. Damit darf ich sowohl in Deutschland als auch in Italien wählen. Ich halte den Bogen mit den bunten Logos der verschiedenen Parteien in der Hand und bin überfordert. Wem soll ich meine Stimme geben? Soll ich überhaupt wählen, obwohl ich nicht in Italien lebe? In diesem Moment, in dem sich mein Italienischsein in Form von Wahlunterlagen bemerkbar macht, realisiere ich, wie wenig Ahnung ich von italienischer Politik – vielleicht sogar von Italien selbst – habe.
Staatsbürgerin in zwei Ländern zu sein, gefiel mir schon immer sehr. Komisch, denn reale Vorteile hatte ich dadurch nie. Doch irgendetwas in mir regt sich, wenn ich ein Formular ausfülle und bei „Staatsangehörigkeit“ deutsch-italienisch schreiben kann. Sicherlich auch, weil ich in 25 Jahren so gut wie nie schlechte Erfahrungen mit meiner italienischen Identität in Deutschland machen musste. Es sind meine Tanten und Onkel, die mir noch von anderen Zeiten erzählen.
Mein „nonno“, mein italienischer Opa, kam in den 1950er Jahren vom sizilianischen Land als Gastarbeiter nach Baden-Württemberg. Meine Oma folgte ihm – mit neun Kindern. Der Jüngste von ihnen war mein Vater. Ich bin in Deutschland geboren und aufgewachsen und konnte, bis ich 18 war, nicht flüssig Italienisch sprechen.
Am 26. September 2022 finden gleich zwei taz Talks statt: Um 17 Uhr startet der taz Talk „Generationen gegen die Angst“. Um 19 Uhr geht es direkt weiter mit dem taz Wahl Talk „Wer hat Angst vor Giorgia Meloni?“
Nach dem Abitur absolvierte ich einen Freiwilligendienst in Italien, um das zu ändern. Im Sprachkurs warnte die Lehrerin mich und andere Kursteilnehmer:innen vor der Lega Nord, wie die rechtspopulistische Lega damals noch hieß. Wirklich einordnen konnte ich die Partei da noch nicht, geschweige denn ahnen, dass sie in ein paar Jahren an der Regierung beteiligt sein würde.
Versuche, die italienische Politik zu verstehen
Es ist nicht so, als hätte ich nie versucht, das politische Geschehen in Italien zu verfolgen. Immer wieder starte ich einen neuen Anlauf. Im Kopf bleiben mir einzelne Namen, die ich – werde ich auf die Politik im Herkunftsland meines Vaters angesprochen – abspule: Berlusconi, Renzi, Conte, Draghi, Salvini, Meloni. Peinlicherweise kann ich nur zu denen mehr sagen, die wegen ihrer Skandale und unmöglichen Aussagen in der Öffentlichkeit stehen.
Ich höre mich bei meiner Familie um. Die meisten behielten ihre italienische Staatsbürgerschaft oder haben – wie ich – den Doppelpass. In der Whatsapp-Gruppe mit den Cousinen und Cousins frage ich: „Wer will mit mir über die Wahlen in Italien reden?“ Die Begeisterung hält sich in Grenzen. Eine Cousine schreibt, sie empfinde sich als Außenstehende, die nicht viel dazu sagen könne.
„Nein zum Trio infernale Meloni, Salvini und Berlusconi“, schreibt mein Cousin Giuseppe. Wir telefonieren. Er erzählt, dass er sich seit einigen Jahren dafür interessiere, was politisch in Italien los ist. Die angekündigten Steuerentlastungspakete des rechtskonservativen Trios seien leere Versprechen. „Ich wähle auf jeden Fall“, sagt er. Auch meine Tante schreibt, sie habe bereits gewählt. Trotzdem sagt sie: „Gina, auch wir haben Schwierigkeiten. Wir verfolgen die italienische Politik nicht so sehr.“
Das gibt mir zu denken. Ist das, was meine Cousine, meine Tante und ich fühlen, Politikverdruss? Der scheinbar ständige Regierungswechsel in Italien überfordert mich. Das Draghi-Kabinett war das 69. nach 1945. Zum Vergleich: Das Scholz-Kabinett ist das 24. seit Adenauer.
Ich beginne, mehr Artikel zur italienischen Wahl zu lesen, schaue nach, was Menschen schreiben, die schon lange ein Auge auf die Entwicklungen in Italien haben. Lese ich über den Zuspruch, den die Faschistin Giorgia Meloni bekommt, schnürt sich mir die Kehle zu. Die Prognosen sehen sie eindeutig vorne. „Dieses Jahr wähle ich!“, entscheide ich.
Wird meine Stimme den Unterschied machen? Wahrscheinlich nicht. Dennoch steigt in mir das Bedürfnis, am demokratischen Prozess teilzunehmen und Meloni nicht den haushohen Wahlsieg zu gönnen.
Auslandsitaliener durften nicht wählen
Um letzte Unsicherheiten aus dem Weg zu räumen, rufe ich eine Expertin an. Edith Pichler ist gebürtige Italienerin und forscht an der Universität Potsdam zu den Themen Migrationspolitik und interkulturelles Zusammenleben. „Lange Zeit durften Auslandsitaliener gar nicht wählen“, sagt sie. Zu groß war die Angst vor Wahlmanipulation.
Nicht ganz zu Unrecht, wie der Fall von Nicola di Girolamo zeigt. Nach seiner Wahl zum Senator im Jahr 2008 vermutete man Wahlbetrug, begangen von der kalabrischen Mafiaorganisation ’Ndrangheta. Sie soll Blankowahlzettel von migrierten Italiener:innen im Raum Stuttgart aufgekauft und zugunsten di Girolamos ausgefüllt haben.
Das Wahlrecht für Auslandsitaliener:innen gehe auf den Politiker Mirko Tremaglia zurück, erklärt Edith Pichler. Tremaglia war seinerzeit Mitglied der neofaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano und später in deren Nachfolgeparteien. Von 2001 bis 2006 war er unter Silvio Berlusconi „Minister für die Italiener in der Welt“. Die Gesetzesänderung war eine seiner größten Errungenschaften.
Seit 2001 dürfen Auslandsitaliener:innen zwölf Mitglieder in die Abgeordnetenkammer und sechs Senator:innen wählen. Mit dem Verfassungsreferendum 2020 zur Verkleinerung des Parlaments sind es nur noch acht Abgeordnete und vier Senator:innen. Ich habe einem Faschisten zu verdanken, dass ich eine Stimme gegen Faschist:innen abgeben darf.
Komplizierte Wahlunterlagen
„Die Wahlbeteiligung der Auslandsitaliener ist aber sehr gering“, sagt Pichler. Bei der letzten Parlamentswahl 2018 beteiligten sich nur knapp 30 Prozent. Auffällig ist die hohe Zahl ungültiger Stimmen: Elf Prozent der Stimmen von Auslandsitaliener:innen waren nach Angaben des italienischen Innenministeriums vor vier Jahren nicht gültig.
Mit Blick auf meine Wahlunterlagen wundert mich das nicht. Zwar ist ein Schreiben beigelegt, das in genauen Schritten erklärt, was zu tun ist, aber selbst nach mehrmaligem Lesen bin ich immer noch verunsichert, wo genau ich mein Kreuz setzen soll.
Erst nachdem mir eine italienische Freundin in einer zweiminütigen Sprachnotiz erklärt, dass ich das Kreuz auf das Parteisymbol setzen und die Nachnamen der Abgeordneten auf die Linie daneben schreiben muss, ist alles klar.
Edith Pichler spricht noch ein weiteres Problem an: „Deutsch-Italiener sind nicht präsent in der deutschen Politik.“ Zwar dürfen die migrierten Italiener:innen wie mein Vater und seine Geschwister an den italienischen Wahlen teilnehmen, aber um in Deutschland über die Kommunalwahlen hinaus wählen oder gar selbst kandidieren zu können, brauchen sie die deutsche Staatsbürgerschaft.
Seit 2002 können sich Italiener:innen einbürgern lassen, ohne die italienische Staatsbürgerschaft zu verlieren, erklärt Pichler. Dafür müssen sie mindestens acht Jahre in Deutschland leben, 255 Euro zahlen, vorweisen, dass sie keine Sozialleistungen beziehen und einen Einbürgerungstest bestehen.
Diesen Schritt gingen viele Italiener:innen nicht. „Einige fragen sich, wozu sie den Aufwand betreiben sollen, wenn sie sonst keine Nachteile hier in Deutschland haben“, sagt Pichler. Vor allem unter Gastarbeiter:innen gebe es die Haltung: Warum soll ich Geld dafür zahlen, um Bürger:in in dem Land zu werden, für das ich so viel geleistet habe?
Letzte Zweifel
„Es ist auch eine gewisse Frage der Würde“, sagt die Wissenschaftlerin. „Die Gastarbeitergeneration hat verpasst, politisch aktiv zu werden“, ergänzt sie. Es gebe aber auch Ausnahmen. Besonders in Gegenden wie Wolfsburg und Saarbrücken, in denen viele Gastarbeiter:innen ankamen, engagierten sich Italiener:innen in Gewerkschaften und der SPD.
Endlich, in der Woche vor der Frist, falte ich die ausgefüllten Wahlbögen zusammen und stecke sie in den kleinen weißen Umschlag und diesen dann mit dem Wahlschein in den größeren gelben Umschlag.
Während ich zum Briefkasten laufe, melden sich noch einmal letzte Zweifel. Beteilige ich mich an einer Wahl, die gar nicht meine Wahl ist? Die Gesichter von Meloni, Berlusconi und Salvini tauchen vor meinem inneren Auge auf. Ich denke an Geflüchtete und Schutzsuchende, die auf Anweisung von Matteo Salvini tagelang auf einem Schiff im Hafen von Catania ausharren mussten.
Ich denke an den korrupten Silvio Berlusconi, der wissentlich die Prostitution Minderjähriger förderte. Ich denke an Giorgia Meloni und ihre Behauptung in einem Interview 1996, dass der Faschistenführer Benito Mussolini ein „guter Politiker“ gewesen sei. Die Zweifel verfliegen und mein Umschlag fällt durch den Briefkastenschlitz.
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