Pandemie-Handling in Südkorea: Die unguten Gefühle bleiben
Auch in Südkorea war 2020 frustrierend. Die Eindämmung von Corona gelingt aber besser, denn die Menschen begegnen der Gefahr als Kollektiv.
„Es ist … so irrational!“, entfährt es Jin Ah vom Café „Woolf“ in Seoul, als ich ihr vom neuen, deutschen Glühweinproblem erzähle: der Unfähigkeit zum Verzicht und der Unmöglichkeit, ihn im Gehen zu genießen, falls man bei diesem Getränk überhaupt von Genuss sprechen kann. „Was ist los mit euch Deutschen? Wir pflegten zu euch aufzuschauen!“ Tja, das scheint sich gerade zu ändern.
Das nach der britischen Autorin Virginia Woolf benannte Café ist ein Hotspot, allerdings nicht für Corona-Cluster-Infektionen, sondern für feinen Jazz und feministisches Gedankengut. Damit gehört es in einer zu weiten Teilen immer noch ziemlich konservativen koreanischen Gesellschaft zwar klar zur Avantgarde – was aber den Umgang mit dem Virus und die Einschätzung der diesbezüglichen westlichen Bemühungen betrifft, ist man hier fest im kollektiven Konsens verankert: Gegenseitige Rücksichtnahme ist der Schlüssel, über deutsche Maskenpanik kann man, egal ob progressiv oder reaktionär, nur den Kopf schütteln.
Es war, coronatechnisch betrachtet, ein relativ gutes Jahr für Südkorea. Allerdings nur im Vergleich zu fast allen anderen Ländern der Welt, insbesondere den westlichen. Trotz der ziemlich erfolgreichen und vom Westen mehr oder weniger ignorierten Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie war und ist es aber auch hier ein nervöses, angespanntes und frustrierendes Jahr, das zu Ende geht, ohne dass damit auch die unguten Gefühle verschwinden würden.
Entschlossene Rücknahme
Im Gegenteil: Anfang Dezember stiegen die Neuansteckungen zuletzt auf über 600 täglich, den höchsten Wert seit März; die Todesfälle beziffern sich derzeit auf insgesamt gut 550. In vielen anderen Ländern würde man diese Zahlen vielleicht als erfreulich empfinden und sogleich Lockerungsübungen machen. Im Großraum Seoul wurden dagegen alle Lockerungen wieder entschlossen zurückgenommen, stattdessen gilt für die nächsten Wochen nun die zweithöchste Sicherheitsstufe.
Für meinen Alltag hier bedeutet das zwar kaum spürbare Einschränkungen – Restaurants müssen um 21 Uhr schließen, da habe ich meist schon gegessen; Karaokeräume bleiben geschlossen, aber das mache ich sowieso lieber zu Hause, wegen der besseren Musikauswahl; Cafés dürfen nur noch außer Haus verkaufen, ich trinke den köstlichen koreanischen Kaffee sowieso lieber unterwegs.
Für viele Seoulites, gerade junge Leute, stellt sich das alles aber deutlich unangenehmer dar: Wegen oft beengter Wohnverhältnisse, meist mit mehreren Generationen unter einem Dach, sind die omnipräsenten Coffeeshops unverzichtbare Rückzugsräume, um konzentriert zu lernen, sich mit Gleichaltrigen zu treffen oder einfach nur Ruhe zu haben. Zwar kostet hier der Kaffee ein Drittel bis doppelt so viel wie in Deutschland; dafür sitzt man auch gerne viermal so lang an einer Tasse, während man büffelt und über seinen Büchern brütet.
Bildung genießt höchste Priorität
Bildung hat in Südkorea höchste Priorität, und so war der 3. Dezember wieder das entscheidende Datum des Jahres, der Tag der Uni-Aufnahmeprüfungen. Große Teile der Gesellschaft sind dann im Ausnahmezustand, Büros und Betriebe öffnen später, damit der reibungslose Transport der Schüler zu den Prüfungsorten gewährleistet bleibt, Flugzeuge bleiben am Boden, um die Konzentration nicht zu gefährden. Existenzen hängen an diesem einen Tag, der in wenigen Stunden über die ganze weitere Zukunft entscheiden kann. Dieses Jahr war es aber auch ein Stichtag, bis zu welchem unbedingt durchgehalten werden musste; erst unmittelbar danach wurden die Sicherheitsschrauben wieder fester angezogen.
Die Musikclubs hatten das schon früher zu spüren bekommen und mussten ihre im Frühherbst zaghaft ausgestreckten Fühler bald wieder einziehen. Noch Mitte November war es mir vergönnt gewesen, endlich mal wieder in einem echten Club für echte Menschen Platten aufzulegen – wie ein Regenbogen am Ende des Tunnels.
Doch das kann täuschen – tatsächlich erscheint in den langen südkoreanischen Autobahntunneln bisweilen auf halber Länge ein künstlicher Regenbogen, er dient lediglich dazu, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten, damit die Person am Steuer nicht einschläft. Eine von vielen in diesem Land beliebten Maßnahmen staatlicher Fürsorge zur Erhöhung der allgemeinen Achtsamkeit und damit Sicherheit. Diese erstrecken sich bisweilen weit in die Privatsphäre der allgegenwärtigen Smartphones.
5-G-Internet sogar in der U-Bahn hat seine Nebeneffekte. Unaufgefordert schieben sich Sicherheitshinweise mehrmals täglich in jedes Telefongespräch, das daraufhin kurz unterbrochen wird; zur zweiten Natur geworden ist mittlerweile das Fiebermessen und Einchecken in Cafés, Läden und Restaurants per QR-Code. Für mich okay, aber für so manche Liebesaffäre bedeutete dies schon die ungewollte Aufdeckung, ebenso für so manche bis dahin diskret verschwiegene sexuelle Orientierung.
Am virtuellen Pranger
Dr. Dong-Seon Chang, in Heidelberg geborener und in Tübingen promovierter Neurowisenschaftler und Buchautor („Tanzen ist die beste Medizin“), der seit einigen Jahren wieder in Seoul lebt, beschreibt das Problem der im technikbegeisterten Südkorea notorischen virtuellen Pranger: „Kaum wird einer abgestellt, macht der nächste unter einem anderen Namen und an anderer Stelle wieder auf. Es ist in diesem Land einfach sehr beliebt, sich dort umzusehen, aber es finden sich natürlich viele unbewiesene, oft auch erfundene harte Anschuldigungen und Urteile. Südkorea hat übrigens eine der höchsten Selbstmordraten der Welt.“
Eine Clusterinfektion in einem Schwulenclub im internationalen Ausgehviertel Itaewon hatte die ohnehin unter moralischen Vorbehalten stehende Clubszene im Frühling nachhaltig diskreditiert und unter Druck gesetzt. Verschiedene Läden für elektronische Musik wie „Faust“, „Cakeshop“ und einige andere haben inzwischen eine Assoziation ähnlich der Berliner Club Commission gegründet, um den Status der Clubs endlich auf ein vernünftiges Level zu heben, um Anerkennung als kulturelle Institution zu erreichen.
Vom Club zur Tapasbar
„Die Nachtleben-Gesetze in Südkorea gehen teilweise noch auf die japanische Besatzung zurück. Ein Nightclub mit der entsprechenden Lizenz und Steuerklasse wird bis heute als Ort definiert, an dem man tanzen, rauchen und trinken darf. Die Getränke werden dabei möglicherweise von jungen Damen serviert. Das hängt noch mit der Geisha-Kultur zusammen. Eine solche Lizenz ist steuerlich unerschwinglich für kleine Läden und es ist natürlich auch nicht die Art Kultur, um die es uns geht. Stattdessen haben kleine Clubs oft eine Restaurantlizenz und müssen daher Essen anbieten.
In einem Restaurant darf man nicht rauchen, okay, das wäre zu verschmerzen. Man darf aber natürlich vor allem auch nicht tanzen, weswegen es anhaltende Diskussionen darüber gibt, was genau Tanzen eigentlich bedeutet, ab wann man von Tanzen sprechen kann“, erklärt mir Ed, einer der Macher des „Moor“, wo ich auflegen durfte – eigentlich als Technoclub geplant, jetzt bis auf Weiteres als Tapasbar definiert.
Trotz aller Einschränkungen der persönlichen und auch der wirtschaftlichen Freiheit in diesem und in vielen anderen Sektoren kam es aber in Südkorea praktisch zu keinen querdenkerischen oder einfach nur hedonistischen Umtrieben, die Ausnahme waren evangelikale Gottesdienste, bei denen die Hygieneregeln missachtet wurden. Das im Westen nach wie vor weit verbreitete Streben zur Lücke, das zielstrebige Aufspüren von individuellen Freiräumen, und sei es einfach durch das Ignorieren oder Diskreditieren von Maßnahmenkatalogen, wird hier mit großer Verwunderung wahrgenommen.
Rationalität und gegenseitige Rücksichtnahme sind in Südkorea hohe Güter, und zumindest Ersteres wurde bisher auch stets für eine typische Eigenschaft der deutschen Kultur gehalten, deren hiesige Beliebtheit sich nicht zuletzt in einer irritierenden Vielfalt von deutschen Wörtern im öffentlichen Raum zeigt: Moor, Faust, Kammer, Liebe, Glück, Schwarzwald – so heißen hier Clubs, Plattenläden, Häuser und Geschäfte.
Auf einer herbstlichen Rundreise durch die vom Virus weitgehend verschonten Provinzen entdeckte ich an der Südküste sogar ein ganz deutsches Dorf: Dogil Maeul, einst gegründet von heimgekehrten koreanischen Bergarbeitern und Krankenschwestern, die jahrzehntelang in Deutschland gearbeitet hatten und es sich nun in einer Art Schwäbische-Alb-Fantasie-Kaff mit Meerblick gemütlich machen.
Hier sind die Fallzahlen verschwindend gering, anders als in den Ballungsräumen; hier gibt es allerdings auch so gut wie keine lebenshungrigen jungen Leute mehr. Außer denen, die in den Gastronomiebetrieben dieses inzwischen zur Touristenattraktion avancierten Ortes arbeiten, in Gasthöfen, die das einst so makellose Bild von Deutschland immer noch im Namen tragen: „Danke Schnitzel“.
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