Pandemie-Debatte im Abgeordnetenhaus: Koalition streitet auch bei Corona
Die mitregierende Linkspartei attackiert Regierungschef Müller und seine SPD. Die AfD ist gegen alle Maßnahmen und murrt etwas von „Stasi-Staat“.
Es ist die zweite Sitzung des Landesparlaments nach der Neuwahl am 26. September, in der Corona und die Maßnahmen gegen die vierte Welle der Pandemie im Mittelpunkt stehen. Seit vergangenen Montag gilt die 2G-Regel, die fast überall nur Geimpften und Genesenen Zutritt gewährt. Und für kommende Woche hat Müller schon einen Senatsbeschluss zur Ausweitung auf „2G plus“ angekündigt.
Das trägt auch die Opposition weitgehend mit. „Die CDU ist zu jedem konstruktivem Schritt bereit“, beteuert ihr Chef Kai Wegner. Für ihn ist seine Rede eine Premiere in seiner neuen Rolle als Fraktionsvorsitzender und die erste seit 2005, als er nach sechs Jahren das Abgeordnetenhaus verließ und bis diesen Herbst im Bundestag saß.
Auch bei ihm gibt es Passagen, die von Wortwahl und Inhalt eher an anderen Parteien zu hören sind. Dass mittlerweile Eltern Lolli-Corona-Tests für ganze Klassen besorgt hätten, weil das entsprechende Projekt nicht aus dem Pilotstatus heraus kam, findet Wegner zwar vom privaten Engagement her löblich. Grundsätzlich aber ist dieser Zustand für ihn nicht haltbar – „das darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen“. Und Kita- und Schulschließungen wären für ihn „eine soziale Katastrophe“.
Die Rederunde hat SPD-Fraktionschef Raed Saleh eröffnet, der nicht ausschließt, dass es einen weiteren Lockdown gibt, wenn die Corona-Regeln nicht eingehalten werden. Als er den Einsatz der Bundeswehr bei der Corona-Bekämpfung lobt, lohnt sich ein Blick Richtung Linkspartei, dem bisherigen und zumindest über eine weitere Zusammenarbeit verhandelnden Koalitionspartner: Außer Schatz und seiner Co-Fraktionschefin Anne Helm in der ersten Reihe ist nur bei einem weiterem Mitglied der 24-köpfigen Fraktion Applaus zu sehen.
AfD nennt 2G „völlig absurd“
Als einzige Fraktion stellt sich die AfD gegen die Anti-Corona-Maßnahmen des Senats. Für ihre Vorsitzende Kristin Brinker ist die 2G-Regel „völlig absurd“, weil die Pandemie dadurch nicht eingedämmt würde. „Der Senat greift völlig unverhältnismäßig in die Freiheitsrechte der Berliner ein“, meint Brinker und kündigt an, ihre Partei werde die „Freiheit der Berliner gegen diese Verbotspolitik verteidigen“.
Dass die Intensivbetten voll sind, mag auch Brinker nicht bestreiten. Aber das liegt aus ihrer Sicht nicht an Corona, sondern an einer reduzierten Bettenzahl. Von einer solchen Reduzierung aus Personalmangel hatten am Dienstag gegenüber Journalisten auch Charité und der landeseigene Klinikkonzern Vivantes berichtet: Sie aber sprachen von 20 Prozent weniger Betten, während Brinker nahe zu legen scheint, als hätte die Politik die Intensivstationen mindestens halbiert.
Wie würde Regierungschef Müller nun reagieren – zum einen auf die Kritik des Koalitionspartners, zum anderen auf Brinker? Der geht auf ersteren gar nicht ein und bezeichnet die Rede der zweiten als gruselig. Brinker versuche, „den Popanz aufzubauen, dass wir die armen Ungeimpften drangsalieren.“ Richtig ist für Müller das Gegenteil: „Es geht nicht mehr, dass eine Minderheit, die Sie (gemeint ist Brinker) offenbar vertreten, eine Mehrheit dominiert und deren Gesundheit gefährdet.“
Mehrfach begleiten abfällige Zwischenrufe aus der AfD Müllers Rede, einer davon lautet „Stasi-Staat“ oder „Stalin-Staat“. Der neue Parlamentspräsident Dennis Buchner wird diesen Begriff später namens des Parlaments zurückweisen. Müller selbst lässt sich davon nicht irritieren. Er, der schon Anfang September feststellte, die Politik hätte in Sachen Impfmotivation ihre Mittel ausgeschöpft und sich auch von einem weiteren Brief an alle Berliner nicht viel versprach, nimmt mit Blick auf die 2G-Regel jeden und jede in die Pflicht.
Auch wenn mehrere Redner vor ihm gefordert haben, der Staat müsse die Regeln durchsetzen, will Müller nicht so tun, als seien Polizei oder Ordnungsamt dazu flächendeckend in der Lage. Für ihn ist es eine Frage gesellschaftlicher Solidarität, Regeln einzuhalten, auch wenn keine Kontrolle droht – so wie im Straßenverkehr: „Wenn die Ampel auf Rot springt, dann halten wir an, auch wenn neben der Ampel kein Polizist steht.“
Mit Blick auf Corona aber hat Müller so seine Zweifel damit: „Wir wir haben nicht zu wenig Angebote, nicht zu wenig Impfstoff und nicht zu wenig Infrastruktur – wir haben zu viel Egoismus und Gleichgültigkeit.“ Dafür gibt es jenseits der AfD breiten Applaus. Auch von der Linkspartei.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“