Osteuropa-Experte über Westbalkan: „Die EU setzt Doppelstandards“

Osteuropa-Experte Ulf Brunnbauer über die Lage im Westbalkan und den EU-Beitrittsprozess. Deutschland hat besonderes Interesse an Serbien.

Viele Politiker haben sich zu einem Familienfoto vor Fahnen aufgestellt

Westbalkankonferenz in Berlin: Familienerweiterung mit Hindernissen Foto: Michael Kappeler/dpa

taz: Herr Brunnbauer, wie ist die Lage im Westbalkan?

Ulf Brunnbauer: Ich habe den Eindruck, dass die Fortschritte der letzten Jahre wieder rückgängig gemacht werden. Je nach politischer Orientierung der einzelnen Regierungen findet ein steter Abbau demokratischer Institutionen statt. Im Westbalkan gehen viele davon aus, dass niemand den EU-Beitrittsprozess in Brüssel noch ernst nimmt. Eine düstere Situation.

taz: Hat sich seit Beginn des Berliner Prozesses was getan?

Brunnbauer: Durch den Kongress und andere Gesprächsformate gibt es viele Plattformen für diplomatischen Austausch. Aber das große Problem ist die Frage der EU-Mitgliedschaft. Der Berliner Prozess hat den Beitritt leider nicht beschleunigt. Das war das, was sich die Länder in der Region erhofft haben.

taz: Wie wird im Westbalkan darauf geblickt?

Brunnbauer: In der Presse der jeweiligen Länder wird das Treffen als Pflichtübung wahrgenommen. Er ist eine Chance, um etwas internationale Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mehr nicht. An eine Mitgliedschaft bis 2030 glaubt niemand.

ist Professor für die Geschichte Südost- und Osteuropas an der Universität Regensburg und wissenschaftlicher Direktor des Leibniz-Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung.

taz: Am Montag gibt es eine Abschlusserklärung von Kanzler Olaf Scholz. Was erwarten Sie davon?

Brunnbauer: Spätestens in einem Monat wird sie vergessen sein. Aber das wäre nicht die erste Abschlusserklärung, die ein solches Schicksal erleidet.

taz: Was gibt es denn für gravierende Probleme in der Region?

Brunnbauer: Die Länder sind nach wie vor von enormer Abwanderung betroffen. Die gut ausgebildeten jungen Arbeitskräfte verlassen das Land. Der ewige Beitrittsprozess sorgt für Stillstand. Er dient einigen politischen Führern vor Ort als gute Ausrede dafür, notwendige Reformen zu unterlassen. Daher ist die Zustimmung zu einem EU-Beitritt zuweilen nicht mehr enthusiastisch. Manche haben die Hoffnung aufgegeben.

taz: Woran liegt das?

Brunnbauer: Die EU setzt Doppelstandards. So sehen es die Leute vor Ort. Einerseits nehmen sie wahr, dass es Länder wie Ungarn gibt, die ständig europäisches Recht verletzen. Dort herrscht keine funktionierende Demokratie mehr. Die Leute fragen sich: Warum gibt es für mein Land so eine hohe Erwartungshaltung, wenn selbst EU-Mitglieder Demokratieabbau betreiben?

taz: Auf dem Gipfel 2022 hat Kanzler Scholz bekräftigt, dass die Staaten des Westbalkans so schnell wie möglich der EU beitreten sollen. Gilt das noch?

Brunnbauer: Offiziell schon, aber ich sehe jetzt nicht den politischen Willen, vielleicht am ehesten noch in der EU-Kommission.

taz: Warum fehlt der politische Wille?

Brunnbauer: Nach der russischen Invasion in der Ukraine ist die Region stärker ins Zentrum gerückt. Deutschland wollte verhindern, dass der Westbalkan zu einem schwarzen Loch wird, wo Russland seinen Einfluss ausbauen kann. Doch der Elan ist weg. Ich glaube nicht, dass alle EU-Mitgliedstaaten ein wirkliches Interesse an einer zügigen Umsetzung der Beitritte haben.

Zum Westbalkan gehören Serbien, Bosnien und Herzegowina, Montenegro, der Kosovo, Albanien und Nordmazedonien. Alle sechs Staaten haben einen EU-Beitrittsantrag gestellt.

Der Berliner Prozess wurde 2014 unter Angela Merkel von Deutschland ins Leben gerufen, um die Zusammenarbeit mit den Westbalkanstaaten zu stärken. Zu den Mitinitiatoren gehören Österreich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Kroatien, Polen und Slowenien sowie die EU-Kommission. Ziel der Initiative ist die Begleitung der Länder auf dem Weg zur europäischen Integration.

taz: Für den Beitritt gelten die Kopenhagener Kriterien. Dazu gehören institutionelle Stabilität und eine demokratische Rechtsordnung. Erfüllt ein Land im Westbalkan diese Kriterien?

Brunnbauer: Nein, aber das haben Bulgarien und Rumänien 2007 auch nicht getan. Dennoch war es wichtig, sie aufzunehmen. Damals wären die negativen politischen Folgen für die EU größer gewesen, wenn man sie nicht aufgenommen hätte.

taz: Plädieren Sie für die Aufnahme weiterer Länder aus dem Westbalkan, die EU-Standards nicht erfüllen?

Brunnbauer: Man müsste etwas Fantasie für neue Beitrittsmodelle entwickeln. Aktuell gibt es nicht viel politische Energie dafür, wie die EU sich im Inneren ändern könnte, um wieder aufnahmefähig zu werden.

taz: Ist die Aussicht auf einen Beitritt überhaupt noch ein Anreiz für Reformen?

Brunnbauer: Das ist schwer zu sagen, weil die sechs Länder recht unterschiedlich sind. Zumindest die theoretische Option einer Mitgliedschaft motiviert immer noch. Es ist aber offenkundig nicht ausreichend, um etablierte undemokratische oder korrupte Praktiken zu beenden. Wir haben es hier mit Augenwischerei zu tun. Es gibt diese Perspektive, aber das reicht nicht, um wirklich etwas zu verändern.

taz: Das Freihandelsabkommen CEFTA war Thema des Gipfels. Welche Rolle spielt es für die Region?

Brunnbauer: Die Forderung nach regionaler Integration und einer Verstärkung des Handels zwischen den Ländern ist sinnvoll. Zu hoffen ist, dass sich vor allem die bilateralen politischen Beziehungen verbessern. Aber einen wirklichen Fortschritt kann man davon nicht erwarten. Dazu sind die Ökonomien einfach zu gleich.

taz: Was bedeutet das?

Brunnbauer: Es gibt kaum etwas, womit die Westbalkanstaaten untereinander handeln können, weil sie so wenig produzieren. Für das, was sie exportieren können, gibt es kaum Märkte in den anderen CEFTA-Ländern. Die wenigsten Branchen sind konkurrenzfähig genug, um innerhalb der EU oder des Weltmarkts zu bestehen. Das wird CEFTA nicht ändern.

taz: Wie kann man den Handel der Länder stärken, wenn nicht durch CEFTA?

Brunnbauer: Besser wäre es, den Ländern einen Zugang zum EU-Binnenmarkt zu ermöglichen. Das könnte man vor einer Vollmitgliedschaft in den politischen Strukturen der EU durchsetzen.

taz: Also braucht es neue Beitrittsmodelle?

Brunnbauer: Es gibt Befürworter von so einem graduellen Beitrittsprozess. Wo der EU-Beitritt eines Landes nicht alle Rechte und Pflichten umfasst, sondern erst den Zugang zum Binnenmarkt regelt.

taz: Wie realistisch ist so eine graduelle Integration?

Brunnbauer: Das Problem ist, dass alle Ökonomien im Westbalkan eher klein und unattraktiv sind. Außerdem existieren aufgrund des starken staatlichen Einflusses keine funktionalen Marktwirtschaften.

taz: Können Sie ein Beispiel nennen?

Brunnbauer: Serbien ist sicherlich der markanteste Fall. Es ist das Land, das mittlerweile im Westbalkan am autoritärsten ist. Es herrscht keine Demokratie mehr. Die Wirtschaft ist korrumpiert.

taz: Deutschland scheint das nicht zu stören. Beide Länder haben kürzlich eine strategische Partnerschaft geschlossen. Was halten Sie von dem deutschen Lithium-Deal?

Brunnbauer: Naja, was soll man dazu sagen? Es ist an Zynismus kaum zu überbieten. Serbien soll in Zukunft die Lithium-Abbaustelle für ganz Europa werden. Demokratische Defizite waren plötzlich vergessen. Kürzlich kam der deutsche Bundeskanzler und schüttelte herzlich die Hand des serbischen Präsidenten. Abgesehen von den massiven Umweltproblemen, sind das fatale Abhängigkeiten, die durch den Lithiumabbau entstehen werden. Olaf Scholz verlagert die negativen Folgen der Klimatransformation in semi-autokratische Länder. Das erinnert an deutsche Öl-Deals mit Ländern wie Saudi-Arabien.

taz: Hat Deutschland Bedingungen für die Zusammenarbeit genannt?

Brunnbauer: Auf dem Papier schon. Aber der Deal wurde so schnell geschlossen, dass der Handel nicht einmal als Hebel für das Einfordern von bestimmten Reformen in Serbien taugt. Ich finde, das ist ein fatales Signal an die serbische Zivilgesellschaft, die seit Jahren gegen Bergbauprojekte, die zu massiven Umweltschäden führten, kämpft. Aus deren Perspektive fällt ihnen Deutschland jetzt in den Rücken. Extraktionsindustrien führen in der Regel immer nur zur weiteren Verstärkung korrupter Systeme.

taz: Wie wird sich der Westbalkan entwickeln?

Brunnbauer: Ich bin mittlerweile sehr pessimistisch. Meine Befürchtung ist, dass in ein paar Jahren kaum noch jemand in diesen Ländern leben wird. Dann existiert nur noch eine politische Elite, die sich selbst und ein paar alte Leute, die nicht auswandern konnten, regiert.

taz: Wie soll es nach dem Gipfeltreffen weitergehen?

Brunnbauer: Ich denke, dass eine Big-Bang-Lösung das Beste für den Westbalkan wäre.

taz: Was meinen Sie damit?

Brunnbauer: Eine rasche und zeitgleiche Aufnahme aller sechs Länder in die EU. Durch zeitlich gestaffelte Beitritte würde man eher noch mehr Probleme schaffen als Lösungen. Gleichzeitig muss klar sein, dass die Länder, vornehmlich Serbien, erst ihre bilateralen Konflikte lösen.

taz: Inwiefern?

Brunnbauer: Die Anerkennung des Kosovo sollte eine klare Bedingung für Serbiens EU-Beitritt sein. Sonst muss man den Prozess abbrechen. Die EU sollte aufhören, die korrupten Eliten durch europäische Fördergelder zu finanzieren.

taz: Welches Signal sollte Deutschland senden?

Brunnbauer: Berlin muss bereit für eine rasche Aufnahme der Westbalkanstaaten sein. In den letzten Jahren ist es schwer geworden, dafür eine Mehrheit zu finden. Vor allem, weil der allgemeine Rechtsruck in der EU Reformen verhindert.

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