Osman und die Erziehung: Das undankbare Kind
Eigentlich wollte Osman seine Tochter Hatice ja nur von der Schule abholen. Aber das ist komplizierter als gedacht.
M it unserem Ford-Transit hole ich meine kleine Tochter Hatice von der Schule ab und schlage ihr vor, dass wir sofort nach Hause fahren, damit sie ihre Hausaufgaben machen kann. Sie ihrerseits schlägt vor, zuerst in ein Café zu fahren, um Kakao zu trinken.
Schließlich einigen wir uns auf einen fairen Kompromiss: dass wir zuerst ins Café gehen, um Kakao zu trinken, und dann nach Hause fahren.
Auf dem Weg dahin sehen wir eine junge Frau, die sich mit ihren Koffern Richtung Bahnhof abrackert.
„Papa, hilf ihr doch!“, ruft Hatice.
Meine Tochter hat völlig recht.
Einem Notdürftigen die Hilfe zu verweigern, wäre nicht sehr vorbildlich dem eigenen Kind gegenüber.
Also halte ich an, rufe: „Ich fahre Sie zum Bahnhof, gnädige Frau“, und schnappe mir ihre beiden schweren Koffer, um sie in unseren Ford-Transit zu bugsieren. Zuerst wehrt sich die Dame wie der Teufel, mir ihre Koffer zu überlassen. Aber als sie Hatice sieht, schöpft sie doch noch Vertrauen – sie kennt Hatice nicht – und lässt sich erschöpft auf den Beifahrersitz fallen.
Am Hauptbahnhof trage ich die Koffer der jungen Frau bis zu den Gleisen und sie küsst mich zum Dank laut schmatzend auf den Mund.
„Na, Papa, gehen wir jetzt nach dem Café auch noch zum Spielzeugladen?“, fragt die kleine Erpresserin Hatice mit hinterhältig funkelnden Augen.
„Also gut, du darfst dir ein kleines Spielzeug aussuchen – aber kein Wort zu Mama“, gebe ich zähneknirschend nach.
Hatice nutzt natürlich völlig unverschämt die Gunst der Stunde und kauft das größte Barbie-Puppenhaus, das sie im Laden finden kann. Dieses sündhaft teure Puppenhaus packt sie dann auf ein Elektrofahrrad und fährt damit grinsend aus dem Laden.
Zu Hause läuft das Kind sofort zu seiner Mutter und brüllt: „Mama, Mama, Papa hat am Bahnhof eine hübsche, junge Frau ganz doll auf den Mund geküsst!“
„Wie bitte? Dein Vater hat eine Frau geküsst?“, fragt Eminanim ungläubig.
„Osman, mich küsst du nie!“
„Papa hat ihr auch noch die Autotür aufgemacht“, setzt Hatice noch einen drauf.
„Mir hast du noch nie die Autotür aufgemacht!“, zischt meine Frau.
„Papa hat ihr auch die Koffer bis zum Zug getragen und sie gefragt, wie viele Sterne ihr Hotel hat und ob die schön glänzen“, gießt das undankbare Kind noch mehr Öl ins Feuer.
„Ich zeig dir gleich glänzende Sterne“, schimpft Eminanim und schlägt mir auf den Hinterkopf.
„Hatice, habe ich dir all die teuren Spielzeuge deshalb gekauft, damit du alles sofort verpetzt?“, platzt es aus mir heraus, noch etwas verwirrt durch die harten Schläge auf den Hinterkopf.
„Du hast ihr also die Spielzeuge nur gekauft, damit sie mir nichts verrät, du Schuft?“, knallt sie mir noch eine auf den Hinterkopf. „Osman, kennst du denn überhaupt keine Moral mehr?“
„Doch, kenn ich! Sonst hätte ich die Hatice schon längst an einer Autobahnraststätte ausgesetzt!“
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