Opposition in Russland: Spazieren gehen verboten!
Für Samstag haben Anhänger*innen von Alexei Nawalny zu Protesten aufgerufen. Der Staat nimmt einige Kritiker*innen schon mal vorab fest.
Die „Spaziergänge“, zu denen das Team um den inhaftierten Kreml-Kritiker Alexei Nawalny für diesen Samstag in mehr als 60 russischen Städten aufgerufen hat, stuft der Staat als „Massenunruhen“ ein, die „Maßnahmen durch die Staatsanwaltschaft“ erforderten.
Die Organisator*innen unternahmen gar nicht erst den Versuch, die Protestaktionen bei den Behörden anzumelden. Antiregierungsdemonstrationen werden in der Regel ohnehin nicht genehmigt. Wegen der Coronapandemie sind jegliche Massenansammlungen zudem verboten.
„Wenn wir Nawalny nicht retten, holen sie jeden“, sagen sich die Nawalny-Leute und riskieren harte Strafen. Der Kreml reagiert nervös und gibt sich dabei gelassen: „Es gibt keinen Protest als solchen. Es gibt lediglich Provokateure, die zum Protest aufrufen“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Freitag.
Längst tot
Der Machtapparat sieht in Nawalny einen nationalen Verräter und spricht ihm jeglichen Platz in der Politik ab. Eine gewöhnliche Politik mit Parteien, Wahlen, Diskussionen ist längst tot in Russland. Nawalny macht ungewöhnliche Politik und greift die Führung, die eine Scheinwelt als real darstellt, vehement an. Das bedroht das System. Also handelt der Kreml nach dem Grundsatz: unterdrücken und leugnen.
Bereits im Vorfeld nahm die Polizei die bekanntesten Anhänger*innen des Oppositionspolitikers fest. Kira Jarmysch, die Pressesprecherin Nawalnys, wurde am Freitag zu neun Tagen Arrest verurteilt, der Anwalt von Nawalnys Antikorruptionsstiftung, Wladlen Los – er hat einen belarussischen Pass – wurde aufgefordert, Russland bis zum 25. Januar zu verlassen.
Bis 2023 dürfe er Russland nicht mehr betreten. Auch Ljubow Sobol, die Produzentin von Nawalnys YouTube-Kanal, wurde zeitweise festgehalten. Weil sie ein kleines Kind hat, ließ man sie schließlich frei. Die Beamt*innen harrten vor den Wohnungen von Nawalnys Mitarbeiter*innen und Anhänger*innen im ganzen Land aus, sie ließen ihnen den Strom abschalten, holten sie aus Zügen heraus. Das Ziel: die Proteste ersticken.
Der 44-jährige Nawalny wurde nach seiner Rückkehr aus Deutschland an der Passkontrolle abgeführt und einen Tag darauf direkt auf einer Polizeiwache zu 30 Tagen Arrest verurteilt. Wegen nicht erfüllter Bewährungsauflagen drohen ihm dreieinhalb Jahre Strafkolonie.
Nawalny-Porträts in Schulen
Musiker*innen, Abgeordnete, Schauspieler*innen, Schriftsteller*innen, Moderator*innen und Regisseur*innen setzen sich für den Gefangenen ein. Jugendliche hängen Nawalnys Porträts in Schulen auf, Student*innen nehmen Theaterstücke über die russische Willkür-Justiz auf und laden die Videos in sozialen Netzwerken hoch.
Die russische Sängerin Monetotschka, die selbst einst wegen ihrer Lieder mit der Justiz in Konflikt geraten war, dichtete eine sowjetische Schnulze um und sagt: „Es geht hier nicht um Politik, es geht um die Zivilgesellschaft und um Gerechtigkeit“.
Millionenfach verbreiten sich die Appelle unter dem Hashtag #swobodunawalnomu (Freiheit für Nawalny). Russlands Aufsichtsbehörde Roskomnadsor forderte soziale Medien auf, solche Aufrufe zu sperren. Kämen sie dem nicht nach, drohten Strafen von umgerechnet bis zu 44.000 Euro.
Organisator*innen könnten wegen Verführung der Jugend belangt werden, Eltern wegen Verletzung der Aufsichtspflicht. Und so rät das Aufklärungsministerium: „Spielen Sie mit Ihren Kindern an diesem Samstag Brettspiele! Kochen Sie etwas gemeinsam! Verbringen Sie Zeit zusammen!“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?
Ansage der Außenministerin an Verbündete
Bravo, Baerbock!
Wissenschaftlerin über Ossis und Wessis
„Im Osten gibt es falsche Erwartungen an die Demokratie“
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus