Open-Source-Intelligence bei der Polizei: Fahndung im Datenmeer
Die Polizeigewerkschaft GdP will frei zugängliche Informationen wie Social-Media-Posts stärker nutzen. Fachleute sehen Grundrechte in Gefahr.
Volltreffer. Tatsächlich handelte es sich bei „Claudia“ um Daniela Klette, die ein anscheinend sorgloses Leben mitten in Berlin führte und sogar Fotos von sich in sozialen Netzwerken veröffentlichte. Wenige Wochen später, im Februar 2024, stand die Polizei bei Klette vor der Tür, die 66-Jährige sitzt seitdem in Untersuchungshaft.
Der Journalist beteuert, keine Informationen an die Polizei weitergegeben zu haben. Die Ermittler wiederum erklären, die Festnahme sei letztlich nach einem „Hinweis aus der Bevölkerung“ erfolgt. In jedem Fall aber zeigt die Causa Klette, dass die Polizei bei der Nutzung frei verfügbarer Daten aus dem Internet weit hinterherhinkt.
Das soll sich in Berlin bald ändern, wenn es nach dem Landesverband der Polizeigewerkschaft GdP geht. Die Lobbyorganisation fordert eine zentrale Kompetenzstelle für sogenannte Open-Source-Intelligence (Osint) – also genau jene Ermittlungen, die auf öffentlich einsehbaren Social-Media-Postings, Instagram-Fotos, Youtube-Videos und ähnlichem Material beruhen und oft auf leistungsfähige Algorithmen zur Auswertung und Verknüpfung von großen Datenmengen zurückgreifen.
Wie ein Geständnis über fehlende Expertise
„Es fehlt aus unserer Sicht noch immer an entsprechenden Strukturen, sowohl was den Einsatz als auch das Ausbilden entsprechender Kompetenzen angeht“, erklärt GdP-Landeschef Stephan Weh. Polizeiarbeit könne „enorm effizient“ gestaltet werden, wenn die Möglichkeiten von Osint-Techniken „bei entsprechendem gesetzlichen Rahmen“ genutzt würden.
In einem am Dienstag veröffentlichten Positionspapier skizziert die GdP, wie sie sich eine solche Einrichtung vorstellt. Das Schreiben liest sich in Teilen wie ein Geständnis über fehlende Online-Expertise: „Wir reden noch immer über Neuland, obwohl Internetrecherche längst polizeilicher Alltag sein sollte“, heißt es darin.
Tatsächlich gibt es bei der Polizei Berlin bislang lediglich eine Zentralstelle im Landeskriminalamt (LKA), die Osint-Techniken beherrscht. Sie wird einzelfallbezogen zur Unterstützung bei Ermittlungen herangezogen, stößt aber bei höheren Anforderungen wie Großereignissen schnell an ihre Grenzen. In anderen deutschen Großstädten ist man da schon weiter. In München, Dortmund und Osnabrück wurde bereits vor mehreren Jahren in einem Pilotprojekt getestet, wie Osint-Daten in die tägliche Arbeit integriert werden können.
Die GdP verlangt nun, dass Berlin auf dem Terrain aufholt. Die Kompetenzstelle soll alle Osint-Vorhaben in Berlin koordinieren und dabei auch Ordnungsämter und eine mögliche zukünftige Behörde für Katastrophenschutz einbeziehen. Außerdem soll ein „professionelles Team“ von Analyst*innen aufgebaut werden, das Behörden etwa bei der Auswertung von Posts in sozialen Medien während Großereignissen oder in Katastrophenfällen unterstützt.
Dabei wird die Polizeigewerkschaft schon recht konkret. Auf der Wunschliste stehen ein kleines Büro sowie „leistungsstarke Laptops, große Monitore und freies und schnelles Internet“, aber auch die Beschaffung von Analysesoftware.
Vasili Franco, Grüne
Vasili Franco, Innenexperte der Berliner Grünen-Fraktion, begrüßt den Vorstoß der GdP. „Grundsätzlich sehe ich in der Verwendung von Osint deutlich mehr Chancen als Risiken“, sagt er am Dienstag zur taz. In den Polizeiabschnitten sowie im LKA würden andauernd Delikte bearbeitet, bei denen die kluge Osint-Anwendung einen Mehrwert bieten könnte, so Franco.
Wenn die Behörden frei zugängliche Informationen effektiver nutzen würden, könnten sie zudem in vielen Fällen auf teure technische Systeme verzichten, die sich teilweise am Rande der Verfassungswidrigkeit bewegten, betont der Grünen-Politiker: „Wir diskutieren immer wieder über die Ausweitung von Befugnissen tief in grundrechtsrelevante Bereiche hinein. Dabei wäre es zielführender, zunächst mit Daten zu arbeiten, die ohnehin öffentlich sind.“
Die konkrete Umsetzung müsse aber natürlich genau beobachtet werden: „Open Source bedeutet nicht, dass die Polizei allerlei Software nach Belieben verwenden darf.“
Einsatz auch bei Asylverfahren?
Der Berliner GdP-Verband hofft unterdessen schon auf ein weiteres Einsatzfeld der Technik: die Bearbeitung von Asylverfahren. „Wenn wir hier grundsätzlich eine entsprechende Recherche als Standard etablieren, könnten wir der Verschleierung wahrer Herkunft, dem Entziehen von Abschiebungen und sogar einer möglichen Terrorbedrohung etwas entgegensetzen“, argumentiert Landeschef Weh.
Für die Juristin Simone Ruf zeigt sich hier ein bekanntes Muster: „Wir sehen immer wieder, dass Befugnisse zur Gefahrenabwehr auch gegen Geflüchtete eingesetzt werden.“ Ruf arbeitet bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte unter anderem zum Thema staatliche Überwachung.
Der Nutzung von Open-Source-Intelligence steht sie grundsätzlich offen gegenüber. „Geht es darum, in öffentlichen Quellen einfach mitzulesen, um schnell reagieren zu können, ist das kein Problem“, sagt die Juristin der taz. „Sobald aber eingriffsintensive Techniken wie biometrische Gesichtserkennung oder künstliche Intelligenz für Datenanalysen eingesetzt werden, sind wir in einem grundrechtsrelevanten Bereich, den wir sehr kritisch sehen.“ Ohnehin brauche es dann eine differenzierte Rechtsgrundlage.
Die gibt es bislang nicht. Auch das offenbart der Fall Daniela Klette. Denn die bei der Recherche verwendete Bilderkennungssoftware ist rechtlich umstritten. In einem Beitrag im „Verfassungsblog“ etwa heißt es, selbst Privatpersonen würden bei der Nutzung des Tools gegen das Datenschutzrecht und das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verstoßen: „Bereits die Datenerhebung, die private Nutzer:innen durch die Bildsuche in Gang setzen, ist rechtswidrig.“ Die Polizei hätte womöglich eine so gewonnene Information überhaupt nicht nutzen dürfen – geschweige denn selbst auf solche Weise nach Klette fahnden.
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