Online-Tool „Climate Storylines“: Was die Klimakrise mit der eigenen Lebenswelt macht
Ein neues Online-Tool des Alfred-Wegener-Instituts zeigt live, wie sich die Erderwärmung auf einzelne Regionen auswirkt. Das Tool ist frei zugänglich.
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Klima? Wetter? Dass beides zusammenhängt, ist zwar vielen inzwischen bewusst. Aber wie, können sich nur wenige vorstellen. Ein Computermodell kann helfen. Ein komplexes Stück Mathematik, das alle Prozesse zusammenrechnet, die über die Entwicklung des Klimas entscheiden.
Ein solches Modell ist das Online-Simulationstool „Climate Storylines“ des Alfred-Wegener-Instituts (AWI), Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung, Bremerhaven. Der experimentelle Prototyp, auch für Nicht-WissenschaftlerInnen zugänglich, ermöglicht es, reale Wetterphänomene vor dem Hintergrund realer Klimaereignisse zu betrachten, mehrere Klimaszenarien, fast in Echtzeit.
Wer die Weltregion eingibt, den Tag oder Zeitraum, kann wählen: Gegenwärtige Bedingungen? Vorindustrielle, also ohne Klimakrise? Oder künftige, als hätten wir schon vier Grad Erderhitzung? Die Lufttemperatur lässt sich zeigen, oder der Niederschlag. Der Blick in die Zukunft ist beunruhigend: „Vier Grad wären schon brutal“, sagt Helge Gößling, Klimaphysiker und Leiter der Storyline-Forschung am AWI. „Das wären dramatische Zustände.“
Seit sechs Jahren arbeitet das AWI an dieser Modellierung, und wer sich in die Tiefen des Tools einarbeitet, erlebt schnell, was Gößling als „Aha-Moment“ bezeichnet: „Besonders greifbar ist das natürlich, wenn ich mich mit dem Wetterereignis identifizieren kann, das ich auswähle, es zu meinem eigenen Lebensumfeld in Beziehung bringen kann.“
In ihrer Studie „How climate change intensified storm Boris’ extreme rainfall, revealed by near-real-time storylines“, in der sie Anfang November 2024 in der Umweltwissenschafts-Zeitschrift „Nature Communications Earth & Environment“ ihre Modellierung erklären, haben ForscherInnen des Alfred-Wegener-Instituts ihrerseits auf einen Aha-Moment gesetzt: Das Sturmtief „Boris“ hatte im September 2024 für heftige Regenfälle gesorgt, von Polen bis Italien, für Tote, Stromausfälle, Schäden an der Infrastruktur. Gößling ist Mitautor der Studie.
Eine Wettervorhersage ist „Climate Storylines“ nicht. Es geht hier um Generelleres. Um ein Mittel, Menschen bewusst zu machen, was geschehen könnte, wenn wir nicht umsteuern. Es sei „ziemlich mutig“ gewesen, mit „Climate Storylines“ online zu gehen, sagt Gößling. Denn „Climate Storylines“ ist noch nicht ausgereift. Mitunter hakt eine Eingabemaske. Mitunter friert das System beim Kartenplotting ein. Aber das sind Kinderkrankheiten.
Auch inhaltlich gibt es noch viel zu tun. Bisher sind nur Daten ab Januar 2024 eingespeist; demnächst sollen Daten ergänzt werden, die bis 2018 zurückreichen. Bisher sind nur 100-Kilometer-Gitterzellen verfügbar; demnächst soll es tiefer in regionale und lokale Details gehen.
Bisher steht zur Simulation der Folgen der Erderhitzung nur ein hartes Vier-Grad-Szenario zur Verfügung; demnächst könnte es Zwischenschritte geben, kalkuliert auf zwei Grad, auf drei Grad. „Für den ersten Schritt wollten wir möglichst klare Effekte, ein möglichst gutes Signal-Rausch-Verhältnis“, sagt Gößling. „Wir wollten den Extremfall testen.“ Auch Verfeinerungen bieten sich an. Szenarien zur Agrarplanung wären denkbar, zur Hydrologie, zu gesundheitlichen Auswirkungen, zu Temperaturfeldern in Städten, bei Hitzewellen. Aber das ist Zukunftsmusik.
Hilfreich gegen Desinformation
Zudem könnte „Climate Storylines“ eine selbsterklärendere Benutzeroberfläche vertragen, eine niedrigere Hemmschwelle für alle, die zwar interessiert sind, aber Laien. Und wer das Tool nach Ereignissen wie dem Sturmtief Boris durchsucht, was derzeit noch die Eingabe des richtigen Zeitraums erfordert, könnte demnächst auf Hilfe durch Vorinstalliertes hoffen.
Aber das Potenzial ist schon jetzt unübersehbar. Ein paar Klicks, und jeder, der Menschen gegenübertreten will, die desinformativ behaupten, die Klimakrise sei Schwindel, die derzeitige Erderhitzung gehe nicht fast gänzlich auf anthropogene Faktoren zurück, findet gute Argumente. „Wir sahen uns als Wissenschaftler getrieben, zu sehen, was möglich ist“, erklärt Gößling den Launch von „Climate Storylines“.
Sehen, was möglich ist: Das ist beim AWI Alltag, zumal in der Analyse der Folgen der Klimakrise. „Hoffnung ist aus Mut gemacht“, hat Martin Kaiser, Geschäftsführer von Greenpeace Deutschland 2021 gesagt. Es gelte, die Erderhitzung auf unter 1,5 Grad zu begrenzen. 2024 könnten wir diese Grenze überschreiten. Ob sie 2095, wie im Szenario des AWI, vier Grad beträgt, wird sich zeigen.
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