Offener Brief an Emmanuel Macron: Kein Gehör für Alarmrufe
Die Autorin Annie Ernaux kritisiert den französischen Präsidenten: Die Coronakrise zeige, dass sein neoliberaler Sparkurs der falsche Weg sei.
„Monsieur le Président,
Ob Sie sich wohl bequemen / Ob Sie die Zeit sich nehmen / Und lesen meinen Brief“. Als Literaturfan werden Sie diese Zeilen sicherlich erkennen. So beginnt das Lied „Der Deserteur“ von Boris Vian, geschrieben 1954, in der Zeit zwischen Indochina- und Algerienkrieg.
Wir befinden uns heute jedoch nicht im Krieg, auch wenn Sie ihn erklärt haben, denn der Feind ist nicht menschlich, er ist nicht unseresgleichen, er verfügt weder über Gedanken noch über den Willen zu schaden, er beachtet weder Grenzen noch gesellschaftliche Unterschiede, er reproduziert sich blind, indem er von einem Menschen zum anderen überspringt. Unsere Waffen, da Sie auf Kriegsrhetorik solchen Wert legen, sind in diesem Fall Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte, Schutzmasken und Tests, es ist die Zahl der Ärzte, Wissenschaftler und Pflegenden.
Seit Sie an der Spitze Frankreichs stehen, haben Sie den Alarmrufen aus dem Gesundheitssektor allerdings kein Gehör geschenkt, und die Parole, die man bei einer Demonstration im letzten November auf einem Transparent lesen konnte – „Der Staat zählt sein Geld, wir werden die Toten zählen“ – hat heute einen tragischen Beiklang.
Doch Sie wollten lieber auf diejenigen hören, die für einen Rückzug des Staates warben und eine Optimierung der Ressourcen, eine Regulierung der Ströme empfahlen, dieser ganze fleischlose Technokratenjargon, der nur von der Wirklichkeit ablenken soll. Doch schauen Sie, es sind die Menschen im öffentlichen Dienst, die im Augenblick mehrheitlich das Land am Laufen halten: die Krankenhäuser, die Schulen mit ihren tausenden schlecht bezahlten Lehrern und Erziehern, der Stromversorger EDF, die Post, die Métro und die Bahn.
Und diejenigen, von denen Sie unlängst behaupteten, sie seien nichts geworden, bedeuten (uns) jetzt alles, da sie weiterhin die Mülleimer leeren, an der Kasse sitzen, Pizzas ausliefern und damit das Leben aufrechterhalten, das ebenso unentbehrlich ist wie das intellektuelle: das tägliche, praktische Leben.
Merkwürdig, dass Sie von „Resilienz“ sprechen, denn dieser Begriff bezeichnet eigentlich die Erholung von einem Trauma. So weit sind wir noch nicht. Herr Präsident, achten Sie auf die Folgen dieser Zeit der Ausgangssperre, dieser Umkehrung des Laufs der Dinge. Die Zeit ist günstig, Dinge infrage zu stellen. Eine Zeit, um sich eine neue Welt zu wünschen. Nicht die Ihre! Nicht die Welt, in der Entscheider und Banker bereits ohne jede Scham die Litanei von längeren Arbeitszeiten anstimmen, bis zu 60 Stunden pro Woche.
Wir sind viele, die eine Welt nicht mehr wollen, deren eklatante Ungleichheiten die Epidemie enthüllt. Wir sind viele, die dagegen eine Welt wollen, in der die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse – gesunde Ernährung, Gesundheitsversorgung, Wohnen, Bildung, Kultur – für jeden gesichert ist; die Möglichkeit einer solchen Welt zeigt sich gerade in der aktuellen Solidarität untereinander.
Herr Präsident, Sie sollten wissen, dass wir uns unser Leben nicht mehr stehlen lassen werden, wir haben nur dieses eine, und „nichts ist so viel wert wie das Leben“ – noch einmal ein Zitat aus einem Lied, diesmal von Alain Souchon. Wir werden uns auch unsere derzeit eingeschränkten demokratischen Rechte nicht auf Dauer nehmen lassen, wie das Recht, nach dem es gestattet ist, dass mein Brief – im Gegensatz zu Boris Vians Lied, das nicht im Radio gespielt werden durfte – heute Morgen in einem staatlichen Radiosender vorgelesen wird.
Aus dem Französischen von Sabine Jainski
Quelle: France Inter, Beitrag „Lettres d'intérieur“ von Augustin Trapenard in der Sendung „7/9“ vom 30.03.20, Annie Ernaux © Droits réservés
Leser*innenkommentare
Willi Müller alias Jupp Schmitz
Hier der Link zum Original
www.google.com/url...yk8Z6C7zN-6cS_Bv_K
Grüsse
hermänschen
Lasten und Pflichten so zu verteilen, das in der jetzigen Katasstrophe solidarisch handeln möglich ist, hat nicht nur Macron verpasst. Denn die sogenannten Gelbwesten werden zu stark belastet. Wenn Intellektuelle getragen werden wollen, wird#s haarig. Gegen einen Virus wie Corona zu kämpfen erfordert veratwortliches umgehehen mit HIV Trägerschaft und dem Folgemutanten Corona. Doch da mangelts eklatant, sodass Wut, Trauer und Hilflosigkeit nicht nur Bedürftige betrifft, sondern auch diejenigen, die geben ,halten und kein Fass ohne Boden sind. Ich fauche z.B. wenn schon wieder eine Liste mit mindestens 22 Kranken zu mir geschickt wird und ich soll die alle versorgen. So ein Austausch ist der logistische Gau von Grünen, Roten und Schwarzen Gnaden. Denn ich kann tragen, aber nicht Über- oder Unmenschliches.
05158 (Profil gelöscht)
Gast
....."„„Gerettet werden soll der Mann in Schlafanzug und Hausschuhen in dem Altersheim in Pontoise, der jeden Nachmittag alle Besucher bat, seinen Sohn anzurufen, und ihnen weinend einen schmutzigen Zettel mit der Telefonnummer hinhielt“......"
(Annie Ernaux spricht für sich, von Hanna Engelmeier)
Also, wenn einem aus Buchstaben geformte Worte, die Tränen in die Augen treiben können, dann diese.
Dieser Brief von Annie Ernaux gibt übertragen die Gemütslage wieder, in der auch ich mich befinde.
Wut, Trauer,Hilflosigkeit, Angst. Die positiv besetzten Substantive sind rar gesät. Und wenn sich wieder eins in den Vordergrund drängt z. B. klatschende Solidarität, bin ich sofort bei der Krankenschwester Nina Böhme.....wir sollen jetzt die Helden sein und werden so behandelt? Und euer Klatschen könnt ihr euch sonstwohin stecken....Tut mir leid...wenn ihr helfen wollt oder es zeigen wollt, wie viel wir Wert sind, dann helft uns für bessere Bedingungen zu KÄMPFEN!
Elli Pirelli
Zu Tränen gerührt... besser ist es nicht auf den Punkt zu bringen.
Und auch hier weigert sich die Politik, wichtige soziale Fragen zu Ende zu denken. Ein bedingungsloses Grundeinkommen jetzt für alle würde viel abfedern, auch und gerade für obdachlose Menschen.
Die Verstaatlichung des Lebensnotwendigen, die ökologische Umstellung auf weniger Ressourcenverbrauch und lokale Produktion ist immer noch ein Randthema.
Wieso eigentlich? Wieso fehlen wichtige Debatten?
Rolf B.
Ich bin ergriffen von diesen Zeilen. Und zugleich bin ich wütend, dass es in Deutschland nach meiner Einschätzung keine Intellektuellen gibt, die sich jetzt, angesichts des sich anbahnenden Offenbarungseides des Neoliberalismus zu Wort meldet und endlich das Anbiedern beenden.
Viele beschwören momentan die nicht vorhandene europäische Solidarität. Wenn ich an die Gelbwesten denke, dann denke ich auch an die Kräfte in Deutschland, die keine Gelegenheit ausließen, diese Bewegung zu desavouieren. Von grün bis schwarz. Im Gegensatz zu französischen Intellektuellen. Da musste man größtenteils ausländische Zeitungen lesen, um über die tatkräftige Solidarität französischer Intellektueller mit den Gelbwesten unterrichtet zu werden.
Ich denke auch an deutsche PolitikerInnen von grün bis schwarz, die diesen Macron wie einen Heilsbringer gefeiert haben. Oder wie einen Propheten des Neoliberalismus. Und die gleichen Jubelchormitglieder hielten sich auffallend zurück, als Macron anfing, die Reichen zu "entlasten" und die Armen zu schröpfen.
Solidarität kann es nur in Europa geben, wenn die Menschen sich nicht durch ihre Regierungen und Meinungsmacher gegeneinander ausspielen lassen.