Ökonom Jens Südekum zur Haushaltskrise: „Nicht auf Zeit spielen“
Die Schuldenbremse braucht eine Reform, sagt der Ökonom Jens Südekum. Möglich wäre ein kreditfinanziertes Sondervermögen zur Klima-Transformation.
taz: Herr Südekum: Es herrscht Krisenstimmung. Viele Leute machen sich große Sorgen über den Bundeshaushalt und das fehlende Geld. Ist die Lage wirklich so schwierig?
Jens Südekum: Wir erleben eine politische und juristische Krise. Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung attestiert, die Schuldenbremse im Grundgesetz verletzt zu haben. Eine ökonomische Krise muss daraus aber nicht folgen.
geboren 1975 in Goslar, ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und Mitglied im Wissenschaftlichen Beirat beim BMWK.
Nach dem Urteil hat die Koalition bereits einen Nachtragshaushalt für dieses Jahr ausgearbeitet. An den Ausgaben ändert sich dadurch wenig. 2024 fehlen vielleicht 20 Milliarden Euro, 2025 etwas mehr. Das ist keine Katastrophe.
Das kommt darauf an, wie die Bundesregierung darauf reagiert. Kanzler Olaf Scholz hat in seiner Regierungserklärung noch nichts Genaues gesagt. Durch die Entscheidung des obersten Gerichts fehlen aber ab 2024 rund 60 Milliarden Euro. Wenn diese staatlichen Ausgaben einfach wegfallen, würde das Bruttoinlandsprodukt etwa um einen Prozentpunkt schrumpfen. Und die gesamten Investitionen der Wirtschaft könnten um vier Prozentpunkte zurückgehen. Dann besteht die Gefahr, dass aus der momentanen Stagnation eine längere und tiefere Rezession wird.
Die 60 Milliarden Euro, die das Verfassungsgericht annullierte, hatte die Bundesregierung in ihrem Klima- und Transformationsfonds eingeplant. Was bedeutet es konkret, wenn dieses Geld nicht fließt?
Viele der Programme sind bisher darauf ausgerichtet, dass die öffentliche Förderung größere private Investitionen auslöst. So soll ein staatlicher Zuschuss von 10 Milliarden Euro für die Chipfabrik bei Magdeburg Investitionen des Unternehmens Intel von 30 Milliarden Euro ermöglichen.
Wenn das Geld fehlt, wären Arbeitsplätze in Gefahr?
Das auch, wobei unser Arbeitsmarkt ziemlich robust ist. Wegen des zunehmenden Fachkräftemangels halten viele Firmen ja an ihren Arbeitskräften fest. Eine große Arbeitslosenwelle befürchte ich deshalb kurzfristig nicht. Sorgen mache ich mir aber über die ausbleibenden Investitionen. Deutschland könnte den Anschluss verlieren.
Als Berater von Wirtschaftsminister Robert Habeck betonen Sie den Epochenwechsel zur Klimaneutralität. Aber ist es wirklich so relevant, ob ein Stahlproduzent oder ein Hersteller von Solarzellen die Förderung für die neue Fabrik 2024 oder erst ein Jahr später erhält?
Es ist keine gute Idee, auf Zeit zu spielen. Man muss die geopolitische Situation betrachten. Andere Länder kämpfen jetzt um die Ansiedlung der Technologien von morgen. Die USA verwirklichen ein großes Förder- und Investitionsprogramm, um neue Fabriken für Halbleiter, Batterien und grünen Wasserstoff zu errichten. Solche Investitionsentscheidungen sind schwer rückgängig zu machen. Deutschland und Europa müssen da mithalten. Sonst verabschieden sich die großen Projekte von hier.
Schaffen das die Unternehmen nicht ohne Staat?
Die Investitionen etwa in die Stahlproduktion mit grünem Wasserstoff rechnen sich für die privaten Unternehmen jetzt noch nicht. Das wird sich in Zukunft absehbar ändern. Aber der Staat muss eine Anschubfinanzierung bereitstellen, vor der die Geschäftsbanken zurückschrecken. Das ist eine außergewöhnliche Situation. Eine Transformation in dieser Größenordnung gab es in der Geschichte des Kapitalismus noch nicht.
Auch wenn die Bundesregierung nun die 60 Milliarden Euro nicht mit Schulden finanzieren kann, sind ihr nicht die Hände gebunden. Zum Beispiel bleiben im Bundeshaushalt jedes Jahr Milliarden übrig, weil sie nicht ausgegeben werden können. Lässt sich das fehlende Geld 2024 und 2025 durch Umschichtungen erwirtschaften?
Das kann man versuchen. Allerdings halte ich einige Vorschläge in dieser Richtung für pure Ablenkungsmanöver. Mit Kürzungen bei der geplanten Kindergrundsicherung oder dem Bürgergeld lassen sich vielleicht zwei Milliarden Euro einsparen. Das reicht auf keinen Fall.
Leichte Kürzungen hier und da, Abschmelzen von Steuerprivilegien wie der Begünstigung von Dienstwagen, Verschiebung von einigen Investitionsprojekten auf 2026 oder 2027 – warum soll so ein Potpourri nicht möglich sein?
Auf diese Art werden die Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP wohl versuchen, Kompromisse zu finden. Aber die großen Investitionsprogramme müssen dabei unbedingt erhalten bleiben. Deswegen rate ich dazu, eine Verständigung mit der Union anzustreben. Wir brauchen grundsätzliche Reformoptionen. Eine bestünde darin, im Grundgesetz ein weiteres Sondervermögen zur Finanzierung von Investitionen in die Klimaneutralität einzurichten – analog dem Sondervermögen für die Bundeswehr. Besser wäre es jedoch, die Schuldenbremse grundsätzlich so zu reformieren, dass regelmäßig höhere Investitionen aus Bundesmitteln erlaubt wären.
Warum sollte die Union der angeschlagenen Ampel-Koalition in dieser Weise aus der Patsche helfen?
Weil auch die Bundesländer, in denen die Union regiert, von dem Problem betroffen sind. Die CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt und Sachsen, Reiner Haseloff und Michael Kretschmer, sorgen sich um dortige Firmenansiedlungen. Berlins CDU-Bürgermeister Kai Wegner hat sich ähnlich geäußert. Auch Parteikollege Hendrik Wüst in Nordrhein-Westfalen scheint mir nicht abgeneigt. Außerdem könnte die Union, wenn sie irgendwann wieder im Bund regiert, in einer ähnlichen Bredouille stecken wie jetzt die Ampel.
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