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Oberarzt über Intensivpflege„Starke emotionale Belastung“

Ministerpräsident Stephan Weil bezeichnet die Lage in Niedersachsens Kliniken als „entspannt“. Der Göttinger Oberarzt Onnen Mörer sieht das anders.

Eine Intensivpflegerin in Braunschweig bei der Versorgung eines Covid-19-Patienten Foto: Ole Spata/dpa

taz: Herr Mörer, Niedersachsens Ministerpräsident hat vor ein paar Tagen gesagt: „Die Lage in den Krankenhäusern in Niedersachsen ist entspannt.“ Sehen Sie das auch so?

Onnen Mörer: Ich entgegne darauf mit einem Zitat von Tobias Welte, dem Direktor der Klinik für Pneumologie der Medizinischen Hochschule Hannover: „Die Lage ist angespannt, aber nicht apokalyptisch.“ Das beschreibt es gut. Auf die zweite Welle dockt sich derzeit die dritte drauf, verschlimmert also eine ohnehin schon belastete Situation. Wir sind einem weiteren Anstieg der Fallzahlen gewachsen, an der Universitätsmedizin Göttingen wie niedersachsenweit. Aber wir müssen unsere Intensivressourcen jetzt ganz besonders achtsam planen. Die Belegungsraten in der Intensivmedizin liegen auch in „Nicht-Covid-Phasen“ schon bei über 90 Prozent.

Hans Martin Wollenberg, Marburger Bund Niedersachsen, sagt: „Wenn die Beschäftigten hören, die Lage in den niedersächsischen Kliniken sei entspannt, fühlen sie sich und ihre Arbeit – dem täglichen Ringen um Leben und Tod – völlig unverstanden.“

Die Pandemie stellt eine enorme Belastung für unsere Teams dar; wir versorgen diese Patienten ja nun schon seit geraumer Zeit im Dauermodus. Bei aller Professionalität: Pflegerschaft und Ärzte geraten da an Grenzen. Die derzeitige Situation auf den Intensivstationen ist mit der Zeit vor der Pandemie nicht zu vergleichen.

Was bedeutet es, „in vorderster Linie“ zu stehen, wie Bundeskanzlerin Merkel sagt und wie hält man das aus?

Die Teams, die da arbeiten, haben natürlich auch sonst mit Intensivmedizin zu tun. Sie wissen, was es heißt, schwerkranke Patienten durch schwere Zeiten zu bringen. Aber im Moment ist die Zahl der Patienten deutlich höher als normalerweise. Hinzu kommt die starke emotionale Belastung, dass diese Patienten oft sehr lange schwerstgradig krank sind, mit einer nicht immer ganz klaren Prognose, wie das für sie ausgeht.

Bild: UMG
Im Interview: Onnen Mörer

51, Geschäftsführender Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie, Rettungs- und Intensivmedizin, Universitätsmedizin Göttingen

Wie stark ist die Auslastung der UMG mit Covid-19-Patienten derzeit?

Aktuell haben wir rund 25 Covid-19-Patienten auf Intensivstation, bei zwölf Patienten ist das Lungenversagen so schwerwiegend, dass zusätzlich zur Beatmungstherapie der Einsatz einer künstlichen Lunge erforderlich ist. Die Patienten mit schwerem Lungenversagen werden zu uns aus einem großen Einzugsgebiet zur weiteren Versorgung verlegt. Zu den frisch Infizierten, den als infektiös zu Behandelnden, kommen Patienten, die entisoliert werden können, aber weiterhin lange auf der Intensivstation behandelt werden müssen. Zusammen nimmt das einen deutlichen Teil unserer Intensivkapazitäten ein. Und auch ein Großteil der anderen intensivpflichtigen Patienten fällt ja weiterhin an. Es ereignen sich weiterhin Motorradunfälle, es gibt weiterhin Herzinfarkte, schwere Hirnblutungen und dringlich erforderliche große operative Eingriffe. Klar, manches lässt sich für ein paar Wochen verschieben. Aber vieles ist so dringlich, dass das nicht geht.

Oft wird in der politischen Diskussion über Maßnahmen nur auf die Inzidenzzahlen geschaut. Wäre es nicht sinnvoller, die Lage danach zu beurteilen, wie viele Intensivbetten frei sind?

Auf jeden Fall. Im Moment werden bei uns ein oder zwei Patienten pro Tag intensivpflichtig. Andere können aus der Intensivpflege verlegt werden, werden vielleicht nach Hause entlassen, manche versterben auch. Aus diesem täglich neuen Verhältnis von frei werdenden Betten zur Zahl der Neuaufnahmen lässt sich sehr genau errechnen, wo wir stehen. Nur auf die Inzidenzzahlen zu schauen, ist heikel: Die Intensivmedizin hinkt dieser Entwicklung hinterher. Im Moment haben wir noch kein Plateau erreicht; wir bewegen uns weiter nach oben.

Hat die Politik zu lange nur auf Impfzentren gesetzt, statt, wie es jetzt geschieht, auch die niedergelassenen Ärzte einzubinden?

Dass wir die Ziele nicht so schnell erreicht haben, wie sie hätten erreicht werden können, hat viele Gründe. Von der fehlenden Verfügbarkeit von Impfstoffen über die Diskussion um AstraZeneca und der daraus resultierenden Verschiebung der Altersgrenzen. Klar, die niedergelassenen Ärzte kennen ihre Patienten sehr gut, können dadurch eine hohe Impfbereitschaft erzeugen. Dass auch sie jetzt impfen, dass auch andere Schultern ins Spiel kommen, um die Effizienz zu erhöhen, ist also sehr hilfreich. Aber die Impfzentren sind natürlich eine wichtige Achse und die Dimensionen müssen logistisch abgebildet werden. Auch der niedergelassene Bereich ist ja außerhalb der Pandemie durchaus ausgelastet.

Wenn Sie sich etwas von der Bundesregierung wünschen könnten: Was wäre das?

Für die Ärzteschaft und die Pflegekräfte ist Rückhalt wichtig. Die erste Welle wurde mit hohem Engagement angegangen. Dann kam die zweite. Jetzt ist die dritte da. Und wenn man dann an den Zahlen und Prognosen sieht, dass die politische Reaktion auf das, was sich da entwickelt, zu spät kommt, ist das für alle, die Dienst am Krankenbett leisten, nur schwer nachzuvollziehen.

Die Politik ist also zu zögerlich?

Dass sie sich schwertut, bevor sie die Reißleine zieht, ohne die die dritte Welle nicht zu brechen ist, ist verständlich. Das hat ja immense Folgen, für die Wirtschaft, für uns alle. Aber zu langes Abwarten macht alles nur schlimmer.

Viele Menschen leiden und sterben an Corona. Gleichzeitig gewinnen Pandemie-Verharmloser an Zulauf. Was würden Sie „Querdenken“-Frontmann Michael Ballweg sagen, wenn er Ihnen gegenübersäße?

Eigentlich würde ich ihm gerne unsere Intensivstationen zeigen, auf der mittlerweile sieben Patienten liegen, die unter 50 Jahre alt sind und ohne große Nebenerkrankungen, teilweise im Mehrorganversagen, bei denen wir mit allen Möglichkeiten der modernen Intensivmedizin um das Überleben kämpfen. Das werden wir natürlich nicht machen, zum Schutz der Privatrechte des Einzelnen und wegen der aktuellen Coronabedingungen. Allerdings muss man die teils ja äußerst weit hergeholten Argumentationsketten dieser Gruppierung immer wieder durchbrechen. Der Gedanke, dass deren Demonstrationen möglicherweise dafür sorgen, dass Menschen erkranken und versterben, ist unerträglich, aber er ist Realität.

Eine Ihrer Aufgaben ist es, Ihre Teams zu motivieren. Wie ist es, von Menschen mehr und mehr verlangen zu müssen, die ohnehin schon an der Grenze ihrer Belastbarkeit sind?

Das ist natürlich oft schwer, denn alle Mitarbeiter tragen nicht zuletzt auch ihre private, von der Covid-Pandemie gezeichnete Belastungssituation in den Arbeitstag mit hinein. Wichtig ist es, den Teamgedanken ans Bett zu bringen, und das möglichst flachhierarchisch. An der Grundbereitschaft der Pflegenden wie der Ärzteschaft, ihren Job zu machen, mangelt es nicht. Problematisch wird es allerdings, wenn die Personalschlüssel ins Wanken geraten, die man braucht, um Covid-19-Patienten adäquat zu versorgen. Dann ist irgendwann das Limit erreicht.

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