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Bundesweite Corona-NotbremseEher Tempomat als Bremse

Die bundesweit geplanten neuen Corona-Regeln bedeuten nur für einige Bundesländer eine Verschärfung. Die Zahl der In­ten­siv­pa­ti­en­t*in­nen wächst.

Das waren noch Zeiten: Die Öffnung der Kneipen ist aktuell überhaupt kein Thema Foto: Hendrik Schmidt/dpa

Gut drei Wochen ist es her, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel bei Anne Will verkündet hat, sie werde sich die steigenden Zahlen nicht noch zwei weitere Wochen tatenlos ansehen. Tatenlos ist Merkel zwar nicht geblieben, sondern sie hat die Änderung des Infektionsschutzgesetzes auf den Weg gebracht, die für bundesweit einheitliche Mindestregelungen oberhalb bestimmter Inzidenzwerte sorgen soll.

Gleichzeitig steht aber bereits fest: Seit Merkels Ankündigung sind die Coronazahlen in Deutschland deutlich gestiegen. Die gemeldeten Neuinfektionen liegen im 7-Tage-Mittel mit 20.312 Fällen pro Tag aktuell 26 Prozent höher als beim Interview der Kanzlerin, der 7-Tage-Mittelwert der Coronatoten ist um 30 Prozent auf 223 Tote pro Tag gestiegen. Und die Zahl der Co­ro­na­pa­ti­en­t*in­nen auf Intensivstationen – die besonders zuverlässig ist, weil es dort kaum feiertagsbedingte Meldeverzögerungen gibt – ist seit Merkels Ankündigung vor gut drei Wochen sogar um 43 Prozent gestiegen.

Der Anstieg bei Neuinfektionen und In­ten­siv­pa­ti­en­t*in­nen hat sich damit im Vergleich zur Zeit vor den Osterferien zwar deutlich verlangsamt, doch die Zahlen steigen auf hohem Niveau weiter an. Und ob sich das ändert, wenn die neue Bundes-Notbremse in der nächsten Woche in Kraft treten sollte, ist offen.

Denn auf dem Papier gehen die bundesweiten Vorgaben nur an einigen Stellen über das hinaus, was eigentlich auch bisher schon gelten sollte. Neu ist vor allem die verbindliche Ausgangssperre, die jetzt wohl zwischen 22 und 5 Uhr und mit mehr Ausnahmen als zunächst geplant kommen soll. Vorgesehen ist sie in allen Gebieten mit einer Inzidenz von über 100 Neuinfektionen pro 100.000 Ein­woh­ne­r*in­nen innerhalb einer Woche. Das betrifft derzeit 361 der 412 Landkreise und kreisfreien Städte.

Keine Notbremse, sondern ein Tempomat

Auch beim Einzelhandel mit Ausnahme von Lebensmittelgeschäften und Drogerien hatten Bund und Länder eigentlich längst vereinbart, dass dieser bei einer Inzidenz von mehr als 100 schließen soll. Viele Bundesländer hatten aber erlaubt, dass Geschäfte weiterhin Kun­d*in­nen bedienen dürfen, die eine Termin ausmachen und einen tagesaktuellen negativen Corona-Schnelltest vorlegen. Das soll nach den Plänen von Union und SPD auch weiterhin möglich sein, aber maximal bis zu einer Inzidenz von 150.

Auch in den Schulen hängt es stark vom Bundesland ab, ob die bundesweiten Vorgaben eine Verschärfung bedeuten oder nicht. Länder wie Niedersachsen und Bayern setzen schon jetzt in der Regel auf Distanzunterricht, sobald die Inzidenz die Marke von 100 überschreitet. Mecklenburg-Vorpommern kündigte am Montag bei einer Inzidenz von 150 eine weitgehende Schließung der Schulen an. In Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg findet bis zu einer Inzidenz von 200 dagegen Wechselunterricht statt, in Sachsen und Thüringen gibt es auch bei Inzidenzen von weit über 200 noch Präsenzunterricht.

Das wäre in Zukunft nicht mehr möglich, wenn hier die Obergrenze von 165 kommt, die derzeit im Raum steht. Allerdings ist auch dieser Wert nach Ansicht des SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach noch viel zu hoch. Zudem sei die Gesamtinzidenz in der Bevölkerung für die Schulen der falsche Maßstab. „Wenn mehr Ältere geimpft sind, steigt die Inzidenz bei Eltern und Kindern stetig an“, warnte er. „Sie tragen das höchste Risiko.“

Ein großes Problem dürfte zudem sein, dass die vorgeschriebenen Schließungen sofort zurückgenommen werden dürfen, sofern die Inzidenz für fünf Tage unter den jeweiligen Grenzwert sinkt – was einen schnellen Wiederanstieg der Infektionszahl zur Folge haben dürfte. Denn eine solche Regelung, die unterhalb einer bestimmten Geschwindigkeit wieder beschleunigt, nennt man zumindest im Verkehr nicht Notbremse, sondern Tempomat.

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7 Kommentare

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  • Sie sagte "das werde ich mir nicht noch 14 Tage mit ansehen".

    Man muss fairerweise sagen, dass das auch heißen kann "ich sehe mir das noch 28 Tage an" oder länger. Sie hat nicht gelogen.

    Und wenn sie wegguckt, hat sie auch nicht zugesehen.

  • Zusatz: aus den Berichte einer großen Ruhrgebietszeitung geht hervor, dass die Landesregierungen auch bei einer Inzidenz von über 200 ... die vielerorts längst erreicht ist... KiTas von der "Notbremse" ausnehmen will.



    Mit welchem Recht?



    Auf Basis welcher Argumente?



    Rechtfertigt die fadenscheinige Begründung "Kindswohl" Tausende, unterbezahlte Beschäftigte zu verheizen?



    Ähnlich wie bei Schule müssen endlich neue, vernünftige Bedingungen geschaffen werden, die der Situation angemessen Rechnungen tragen!

  • Und wieder einmal werden KiTas nicht thematisiert.



    Als wäre das tägliche, oft völlig ungeschützte Zusammentreffen von bis zu 25 Haushalten in Tausenden von KiTas und pädagogischen Einrichtungen kein potentieller Übertragungsort!



    In NRW sind die KiTas seit dem Lockdown im vergangenen Frühjahr durchgängig geöffnet, mit mal mehr und mal weniger Einschränkungen. Eine Notbetreuung gab es seit dem nicht mehr, weil man den Unmut der Eltern nicht befördern wolle.



    Ähnlich wie Lehrerinnen und Lehrer erfahren Erzieherinnen und Erzieher, wie es weiter geht nur sehr kurzfristig, WENN ÜBERHAUPT.



    Ihr stetiges Risiko wird in keinster Weise honoriert oder überhaupt thematisiert!



    Ich verstehe wirklich nicht, warum dies nicht endlich zu einem Thema gemacht wird!

  • So wird das nichts.



    Es ist eine Strategie des "Wasch mich, aber mach mich nicht nass". Oder auch "wie man revoluzzt und dabei noch Gaslaternen putzt". Das Bürger bleibt allein gelassen. Jedes schütze sich und andere wie es kann.

  • weiter gehts in altem Denken, auch bei Grünen und Linken. Die Formen werden hochgehalten, Verbote, Strafen und Polizei - und an die Inhalte traut sich keiner ran. Es ist leichter alles Richtung Coronagegnertum und Schnurpseln wegzureden, als die Probleme inhaltlich, risikofreudig und wirkungsvoll anzugehen. Das Schlafmützenspiel bisher hat jedenfalls nicht geholfen. Betriebe dürfen. Familienbetreibe und Schulen nicht?



    Am Donnerstag soll im Landtag München eine Petition keine Noten - kein Durchfallen behandelt werden, da ohne Unterricht das doch eigentlich nicht möglich sein sollte, mit Noten bewerten. Aber die Eltern und Lehrer wie die grünen und linken Politiker haben wahrscheinlich die Hosen voll und trauen sich nicht. In Bayern haben die Grünen Angst vor solchen Themen, da ein FDPler und ein CSUler die Petition behandeln. Wo doch Bildung und Chancengerechtigkeit ein grünes Thema war - früher. War mir klar- Annalena ach Annalena - mir fehlt der Glaube, dass du das besser machst…

  • Aber was passiert wenn man - wofür alles spricht - dann in zwei, drei Wochen feststellt, dass der Bundes-Tempomat kaum Wirkung zeigt? Muss dann eine weitere Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht werden die sich bis zu ihrer Verabschiedung wieder über Wochen hinzieht? Und dürfen die Länder dann überhaupt noch selbst darüber hinausgehende Maßnahmen beschließen oder ist das Thema damit erstmal vom Bund 'abschließend geregelt' und die Möglichkeit der Länder die Dinge bei Inzidenzen von 200, 300 oder 500 auch strikter zu handhaben damit passé?

  • Für Bayern ergibt sich kaum eine Verschärfung, abgesehen von der durch Söder aufgeweichten Notbremse der MPK. Und die Zahlen steigen auch in Bayern seit Ende Februar. Also wird es der Bundeslockdown auch nicht bringen. Impfungen sind bei der Politik die einzige Hoffnung, und da grätschen die Mutanten rein.