Obdachlosigkeit bei Frauen: Eine Art von Heimat
Der „Unterschlupf“ ist eine Zuflucht für die, die keine Zuflucht haben. Nun droht der Berliner Tagesstelle für wohnungslose Frauen die Schließung.
Denn der „Unterschlupf“, eine Tagesstelle für wohnungslose Frauen, muss Ende des Monats ausziehen. Schon als das Projekt im Februar 2023 startete, war klar, dass der Standort in der Berliner Wrangelstraße nur eine Übergangslösung ist. Das Haus, das der Evangelischen Kirchengemeinde Kreuzberg gehört, soll einem Neubau weichen. In dreieinhalb Wochen läuft der Mietvertrag aus, doch nichts Neues ist in Sicht. „Die Situation ist bedrohlich“, sagt Betti.
Die gelernte Köchin hat den Unterschlupf gegründet. Sie ist Anfang 60, trägt hellblondes Haar, roten Lippenstift, Tätowierungen vom Ohrläppchen bis zum kleinen Finger. Betti gehört zu einer Generation von Punks und Hausbesetzer*innen, die seit Jahrzehnten in Kreuzberg verwurzelt sind. Weil sie nicht gerne in der Öffentlichkeit steht, möchte sie nur ihren Vornamen nennen.
Der Unterschlupf ist ein Schutzraum. Die Frauen können dort frühstücken, Mittag essen, sich duschen, in der „Boutique“ gespendete Kleidung suchen, sich ausruhen. Nachmittags wird gebacken. „Denn wo es nach Kuchen riecht, ist Zuhause“, sagt Betti. Im Winter hat die Diakonie im ersten Stock eine Notübernachtung betrieben. Das Angebot lief im Rahmen der „Berliner Kältehilfe“ und endete deshalb Ende April. Im Sommer gibt es in Berlin viel weniger Schlafplatzangebote dieser Art für Obdachlose. „Dabei sind die Nächte für Frauen, die draußen übernachten, gefährlich. Viele schlafen gar nicht und kommen morgens hierher“, sagt Betti.
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Das Team aus vier Mitarbeiterinnen und Ehrenamtlichen unterstützt bei der Suche nach Schlafplätzen und der Organisation von Terminen. Die Atmosphäre ist familiär, manchmal ausgelassen. „Gestern sind hier alle im Schlüppi rumgelaufen“, sagt Betti. Die Stimmung kann aber schnell umschlagen, wenn es Konflikte gibt oder Frauen Ängste und Wahnvorstellungen entwickeln. Das Team versuche dann Ruhe zu vermitteln. „Manchmal hilft eine Berührung oder Umarmung.“
Das klappt nicht immer. Manche Frauen seien nicht gewohnt, in Gemeinschaft zu sein. „Natürlich müssen wir Hausverbote erteilen, wenn Besucherinnen Gewalt ausüben“, sagt Betti. Für das Team eine schwere Entscheidung. Vor allem, wenn klar ist, dass die Frauen keinen Ort haben, wo sie hingehen können.
Die Unruhe ist wieder da
Betti schaut auf die Uhr. Demnächst kommt jemand vorbei, der ein großes, halb leerstehendes Haus im Kreuzberg besitzt. Eine Chance? Am Nachmittag beim Krisentreffen wirkt Betti wenig optimistisch.
Mitarbeiterinnen, Ehrenamtliche und Besucherinnen versammeln sich um den großen Esstisch. Wann wird gepackt? Was wird gepackt? Und vor allem: Wohin mit dem Zeug? Eine Besucherin erzählt, wie hoch die Mieten für Lagerräume sind. Niemand weiß, wie es weitergeht. „Das ist für mich sehr anstrengend“, sagt Ela, „Wir Wohnungslosen werden wohnungslos.“ Die quirlige Anfang-50-Jährige kommt schon lange zum Unterschlupf und unterstützt bei allem, was anfällt. Der Ort sei ihr wichtig. „Ich konnte hier ankommen und Luft holen.“ Nun ist die Unruhe wieder da. Neben Essen und Duschen fielen auch Sozialkontakte weg. „Das habe ich schon einmal erlebt. Das macht ganz schön viel mit mir.“
Ela ist zum zweiten Mal wohnungslos. Vor etwa drei Jahren kam ihre Depression zurück. „Ich wusste, wenn ich in der Wohnung bleibe, bringe ich mich um“, erzählt sie. Viele Jahre zuvor, als ihre Kinder noch klein waren, war das schon einmal passiert. Sie rutschte in eine schwere Depression, wusste keinen Ausweg mehr. Sie verließ die Stadt, ging in den Wald. „Dort habe ich mir das Leben genommen“, sagt Ela. Am nächsten Tag wachte sie wieder auf. Aber sie ging nicht zurück in ihre Wohnung, in ihr altes Leben, sondern auf die Straße.
Acht Monate lief sie herum und sammelte Flaschen, bevor sie das erste Mal mit jemandem sprach und anfing, Hilfsangebote aufzusuchen. Mithilfe einer Sozialarbeiterin fand sie schließlich eine Wohnung. Ihre Kinder hat sie nicht mehr wiedergesehen. Wer plötzlich aus dem Leben verschwinde und anderen so tiefe Wunden zufüge, könne nicht einfach wieder auftauchen. „Das kann ich mit nichts entschuldigen“, sagt Ela.
Viele der Frauen, die in den Unterschlupf kommen, haben Kinder. Einige waren Unternehmerinnen, Lehrerinnen, Dozentinnen an der Uni. Dann änderte sich ihr Leben. Bei Ela war es die Depression, bei anderen der Wohnungsmarkt. „Wenn selbst die ärmsten Bruchbuden teuer neuvermietet und die Altmieter verdrängt werden, wird es nächstes Jahr noch eine Einrichtung für Obdachlose geben und noch eine“, sagt Ela. Aber an den Ursachen ändere sich nichts.
Immer mehr Ratsuchende
Betti, Gründerin des „Unterschlupfs“
Unter den Besucherinnen des Unterschlupfs sind Frauen, die mit über 60 auf der Straße schlafen. Einige leben seit Jahrzehnten so, andere bekommen Rente – aber finden keine bezahlbare Bleibe. Wer wohnungslos sei, habe es in den Augen vieler nicht geschafft, sagt Ela. „Aber was hat eine Wohnung mit meiner Persönlichkeit zu tun? Ich lebe in einer Wohnsituation ohne Obdach, aber der Rest des Menschen ist doch noch vorhanden.“
Den meisten Frauen im Unterschlupf ist ihre Situation nicht anzusehen. „Unsere Besucherinnen versuchen unsichtbar zu sein, da gibt es ein ganz großes Schamgefühl“, sagt Betti. Einige blieben aus Angst davor, auf der Straße zu landen, jahrelang bei Männern, die ihnen Gewalt antun. Auch wegen der hohen verdeckten Wohnungslosigkeit gebe es keine genauen Zahlen, wie viele Frauen betroffen seien, sagt Kreuzbergs stellvertretender Bezirksbürgermeister Oliver Nöll (Die Linke). Deutlich sei, dass bei der Anlaufstelle „Soziale Wohnhilfe“ immer mehr Frauen und Familien um Rat suchen. „Die Durchlässigkeit von einer gesicherten Mittelstandsexistenz zur Wohnungslosigkeit ist viel größer geworden. Das hat natürlich auch mit der Situation des Berliner Wohnungsmarkts zu tun.“
Zwei Tage nach dem Krisentreffen ist Nöll zu Gast im Unterschlupf. Er verspricht, dass der Bezirk bei der Raumsuche unterstützen werde – aber macht deutlich, wie schwierig das ist. Es seien Gesetzesänderungen auf Bundes- und Landesebene nötig. „Ansonsten können wir auf Bezirksebene immer nur an den Symptomen herumdoktern.“ Er wünsche sich, dass die gesetzlichen Instrumente zum Thema Leerstand geschärft, bei den Mietwucher-Paragrafen nachjustiert und ein Mietendeckel eingeführt werde.
Im April hat die Bundesregierung einen Aktionsplan vorgestellt, um Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 zu überwinden. Auch in Berlin wurde dieses Ziel vor Jahren ausgerufen. Seitdem hat sich die Lage auf dem Wohnungsmarkt weiter verschärft. Anfang Juni stellte Sozialsenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) ein neues Projekt vor: ein soziales Unternehmen, das sich um Wohnungen für Wohnungslose kümmert. Vorbild seien das Hamburger Projekt Fördern und Wohnen sowie das Housing-First-Prinzip in Finnland. Auch in Berlin gibt es bereits Housing-First-Modellprojekte. Dabei werden ohne Vorbedingungen Mietverträge angeboten.
Die Suche nach Räumen ist schwierig
Zweieinhalb Wochen vor dem anstehenden Auszug ploppt eine Nachricht von Betti im Teamchat auf: „Wir dürfen bis Ende Dezember im Haus bleiben!!! Ich bin so glücklich darüber.“ Keine Entwarnung, aber ein Aufatmen. Die Evangelische Kirchengemeinde plane den Abriss aktuell für Anfang 2025, sagt Geschäftsführer Erik Berg. Entstehen solle ein sechsgeschossiger Wohnbau mit Gewerbeflächen. Geplant sei eine „gute“, aber „keine Luxus-Ausstattung“. Berg spricht dabei von Mieten unter 20 Euro pro Quadratmeter und verweist auf die hohen Baukosten. „Wir sind letzten Endes auch eine Institution, die wirtschaftlich denken muss“, sagt Pfarrerin Rebecca Marquardt-Groba. Sie verspricht, den Unterschlupf bei der Raumsuche zu unterstützen.
Die Verhandlungen mit dem Hauseigentümer für einen alternativen Standort haben sich unterdessen zerschlagen. 40 Euro Miete pro Quadratmeter könne der Unterschlupf nicht zahlen, sagt Betti. Die Tageseinrichtung finanziert sich hauptsächlich über einen privaten Spender. Die Finanzierung sei zwar erst mal gesichert, aber leider hätten Vermieter oft Vorbehalte. Einige Gespräche habe sie als „zutiefst verletzend“ empfunden, erzählt Betti. Sollte sie nicht mehr so deutlich sagen, was sich hinter dem Projekt verbirgt? „Mich macht das sauer. Warum muss ich da so herumscharwenzeln?“ Ähnliche Erfahrungen mache „Evas Obdach“ in der Fuldastraße in Neukölln, erzählt Teamleiterin Natalie Kulik. Der Mietvertrag für eine der wenigen ganzjährig geöffneten Notunterkünfte für Frauen läuft im Sommer 2025 aus, das Haus wird verkauft.
Während die Suche läuft, geht der Alltag im Unterschlupf weiter. Einige Frauen schlafen, andere sitzen auf der Terrasse und spielen einander Musik vor. Das Klopapier ist alle, die Zuckerdose leer. Eine junge Frau kommt an, die mit ihrem gewalttätigen Partner gelebt hat. Ela sucht auf ihrem Handy nach Anzeigen für Gewerberäume. Eine Ehrenamtliche singt mit Besucherinnen. Im Unterschlupf kommen Frauen einander nahe, die sonst keine Berührungspunkte haben, sagt Betti. „Für uns ist es wichtig, dass wir uns solidarisieren.“
Transparenzhinweis: Inga Dreyer ist freie Journalistin und hilft etwa zwei bis drei Stunden pro Woche ehrenamtlich im Unterschlupf mit.
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