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Obdachlose über ihr Leben auf der Straße„Ich werde nie übersehen“

Muttchen war Putzfrau und LKW-Fahrerin, bevor sie auf der Straße landete. Wie sie es dort aushält und warum Neue erstmal zu ihr kommen, erzählt sie.

Über und über mit Taschen beladen: Muttchens Rad. Foto: Christian Wyrwa
Andrea Scharpen
Interview von Andrea Scharpen

taz: Muttchen, wann hast du das letzte Mal eine ganze Nacht durchgeschlafen?

Muttchen: Das war vor drei Tagen.

Hast du da auf der Straße geschlafen?

Ja, aber ich kann da ruhig schlafen.

Hast du keine Angst, dass dich jemand überfällt oder deinen Schlafsack anzündet?

Doch, aber das hindert mich nicht am Schlafen. Wenn wirklich etwas passiert, wird man von den Geräuschen wach. Auch dann, wenn man fest schläft.

Schläfst du allein?

Im Interview: Muttchen

67, hat den Namen „Muttchen“ von den Punks in der Innenstadt von Hannover bekommen. Ihren echten Namen behält sie für sich. Sie lebt seit fast vier Jahren auf der Straße. Früher hat sie geputzt, als Kommissioniererin und Lastwagenfahrerin gearbeitet. Muttchen ist es lieber, geduzt zu werden.

Nein. Ich habe jemanden, der bei mir schläft und da schlafe ich besser, weil er mit aufpasst. Wir übernachten ein bisschen außerhalb des Zentrums unter einem Dach von einem Geschäft. Ich stelle dort mein Fahrrad vor den Eingang und schlafe davor. Die Mitarbeiter freuen sich, dass es da steht, weil dann keiner einbrechen kann.

Es sind gerade Minusgrade. Wie hältst du dich warm?

Ich habe viele Schlafsäcke und stecke je nach Temperatur zwei oder drei ineinander. Dann habe ich noch SOS-Handwärmer, die ich mit reinschmeiße. Die halten zehn Stunden warm. Nur die gibt es gerade nicht mehr, weil für die Geschäfte der Winter vorbei ist.

Wurdest du nachts schon mal überfallen?

Das erste Mal bin ich ausgeraubt worden, da haben sie mir die Gürteltasche geklaut. Da waren meine Münzen drin, Medikamente und Papiere. Ich habe auch viele Visitenkarten von Menschen, die mir helfen. Das war alles weg.

Was war passiert?

Ich bin der Meinung, ich bin betäubt worden. Zwischendurch bin ich kurz wach geworden und da war ich aus dem Schlafsack raus, saß auf einer Bank und hab nur noch gemerkt, wie mir die Gürteltasche weggerissen wurde und dann bin ich Stunden später wach geworden. Die Täter konnte ich nicht sehen.

Und das zweite Mal?

Das war im gleichen Jahr im Dezember. Wenn man morgens wach wird, muss man ja mal. Ich komme wieder, da zieht mir einer die Beine weg und ich knalle mit dem Rücken auf Steine.

Musstest du ins Krankenhaus?

Ja, aber ich konnte mein Fahrrad mit meinen Sachen nirgendwo lassen. Deshalb bin ich schnell wieder aus dem Krankenhaus raus. Ich hätte eigentlich noch da bleiben müssen, weil das Genick angebrochen und mein Zwerchfell gerissen war, aber das konnte ich nicht.

Was ist in den Tüten an deinem Fahrrad?

Wichtig sind meine Medikamente. Ich hatte einen Herzinfarkt. Und sonst habe ich da noch etwas zum Anziehen, Schlafsäcke, Decken, Essen, Hundefutter drauf. Viele Leute geben mir extra Sachen zum Verteilen, weil sie wissen, dass ich das mache.

Und an wen verteilst du das?

Viele, die neu auf der Straße landen, kommen zu mir. Die hören: „Geh zu Muttchen.“

Wer landet da so bei dir?

Es sind Menschen, die sich gerade vom Partner getrennt haben und die nicht wissen, wie es weitergehen soll. Ich rede mit den Leuten und versuche, sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Also nicht Alkohol und Drogen. Das hilft nicht.

Trinkst du?

Nein. Ich mag das nicht. Man bekommt nichts mehr auf die Reihe. Die Gedanken drehen sich nur darum. Das finde ich schlimm.

Wie viele Winter hast du schon auf der Straße verbracht?

Der vierte. Diesen Winter wäre ich lieber in einer Wohnung gewesen. Nachts habe ich es immer warm, aber ich bin ja auch den ganzen Tag draußen.

Warum gehst du nicht in einen Treffpunkt?

Ich habe da schlechte Erfahrungen gemacht. Da wird sich immer geprügelt.

Wie bist du auf der Straße gelandet?

Ich habe zu der Zeit auf einem Campingplatz gewohnt. Ich hatte einen Wohnwagen mit Vorzelt. Es hat mir gefallen, dass ich die Tür aufmachen und draußen sein konnte. Aber die alteingesessenen Menschen waren gemein. Ich würde sagen, das war Mobbing. Ich habe den Platz gekündigt, war aber noch dort. Eines Tages habe ich einen großen, braunen Brief bekommen. Die Rentenstelle wollte um die 20.000 Euro von mir haben.

Warum das?

Das wusste ich auch nicht. Ich musste nachforschen, worum es überhaupt ging und bin deshalb mit meinem letzten Geld nach Hannover gefahren. Zu dem Zeitpunkt habe ich schon keinen Cent Rente mehr bekommen. Dann stand ich hier, ohne alles. Ich hatte nicht einmal Winterklamotten an, nur eine dünne Jacke. Und es war schon Oktober.

Wo waren deine Sachen?

Auf dem Campingplatz. Die haben sich die Leute rausgeholt und alles wurde abgerissen. Nach ungefähr sechs Monaten in Hannover habe ich rausbekommen, dass mein geschiedener Mann 2014 Rente eingereicht hat. Der hat die Kindererziehungszeiten auf sich eingetragen, die ich bei mir verbucht hatte. Ich habe die Kinder ja auch erzogen.

Wie viele Kinder hast du?

Mit ihm zwei und insgesamt sind es drei. Die Rentenstelle hat ihm geglaubt. Deshalb wollten sie die 20.000 Euro zurück haben und haben die ganze Rente einbehalten. Dann stand ich da, ohne Geld, Hunger ohne Ende. Es hat ein paar Tage gedauert. Ich habe mich geschämt, auch Wochen hinterher noch, aber ich habe mich irgendwann mit einem Körbchen hingesetzt. Und dann hatte ich etwas zu essen. Das einzige, was ich hatte, war ein Sommerschlafsack, keine Isomatte, nichts. So habe ich den ersten Winter verbracht.

Warum bist du nicht in eine Notunterkunft gegangen?

Ich kannte mich nicht aus und habe keine Information bekommen. Ich musste mir alles, was ich heute weiß, selbst aneignen.

Warum lebst du immer noch auf der Straße?

Eine Wohnung zu bekommen, ist schwierig. Ich möchte auch in einer bisschen besseren Gegend wohnen. Ich möchte nicht in eine Unterkunft, wo nur Alkoholsüchtige und Drogenabhängige sind.

Warum sitzt du eigentlich auf dem zentralsten Platz in Hannover, dem Kröpcke?

Da saß vorher ein Mann. „Heinz“ hieß der. Und gegenüber sitzt ja noch ein Heinz und die beiden hießen immer „Heinz und Heinz“. Der eine hat zu mir gesagt, wenn er nicht mehr da ist, soll ich mich da hinsetzen.

Ist er gestorben?

Ja. Das ist jetzt schon zwei Jahre her. Aber ich habe mich erst nach einem Jahr hingesetzt. Ich glaube, die Seele verweilt noch ein Jahr an dem Ort. Ich wollte ihn nicht stören. Ich kenne das aus meiner Kindheit. Früher starb man ja im Haus und dann wurden die Spiegel und die Bilder zugehängt, damit sich die Seele nicht verhängt.

Gab es für Heinz eine Beerdigung?

Ich habe leider nichts erfahren. Man kennt so viele Leute und weiß nichts von denen. Dass Heinz gestorben ist, habe ich nur durch Zufall von den Zeugen Jehovas erfahren.

Hat sonst niemand Anspruch auf HeinzPlatz erhoben?

Andere haben es versucht, aber es lief nichts. Die haben kein Geld bekommen.

Wieso klappt es bei Dir?

Vielleicht weil man mich kennt. Ich hab zuerst an der Bahnhofsstraße vor einer Mauer gesessen und dann kamen eines Tages die Rumänen und haben mich umzingelt. Sie saßen rings um mich herum und ich habe nichts mehr bekommen. Dann bin ich in die Packhofstraße gegangen. Aber da ging das wieder los mit den Rumänen. Und dann bin ich zu meinem jetzigen Platz gezogen.

Was geben dir die Leute?

Wenn ich erkältet bin, Hustenbonbons und oft Essen. Manchmal Warmes, öfter Brötchen, Brote und heute sogar eine Kugel Eis. Schön wäre ab und an auch etwas Geld, damit man sich selbst etwas kaufen kann.

Hast du das Gefühl, dass du manchmal übersehen wirst?

Ich werde nie übersehen. Der überwiegende Teil der Menschen ist sehr nett zu mir. Wir lachen zusammen und reden über alles Mögliche: Krankheiten, Familie, auch über ihre Seele. Über viele weiß ich alles. Aber es gibt auch immer welche, die müssen einem einen mitgeben.

Verletzt dich das?

Manche Sprüche sind ganz schön derbe. Aber ich lasse es mir nicht anmerken. Das sind meistens Menschen, die selber nicht so viel haben – ob Hab und Gut oder im Gehirn.

Kennst du andere Frauen, die auf der Straße leben?

Nein.

Ist es für Frauen schwieriger auf der Straße?

Ja. Viele suchen Schutz bei Männern und müssen dafür herhalten. Es gibt Menschen, ob Mann oder Frau, die suchen sich extra Obdachlose für eine Nacht.

Ist schon mal jemand so an dich herangetreten?

Oft. Aber ich sag den Männern dann, dass ich kein Interesse habe.

Wo gehst du eigentlich duschen?

Ich reinige mich draußen. In diesem Tagescafé kam ich beim Duschen nie an die Reihe. Jetzt suche ich mir irgendwo ein Versteck, meistens nachts, und reinige mich.

Fühlst du dich manchmal eklig?

Ja, oft. Wäsche waschen kann ich nicht. Ich muss sie ausziehen und wegtun. Das ist teuer. Unterwäsche muss ich kaufen, die bekommt man ja nicht so. Strümpfe habe ich zu Weihnachten aber genug bekommen.

Hast du einen Plan für dieses Jahr?

Ich kämpfe dafür, dass ich meine Rente wieder bekomme. Und dann will ich einfach nur eine Wohnung. Wenn ich drin bin, werde ich erst einmal drei Stunden heiß duschen.

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3 Kommentare

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  • Da ist doch noch eine jurist. Auseinandersetzung offen, wenn die Rentenstelle mal so über den Daumen die Gelder verteilt.

    Die Rentenzahlung ganz einstellen, ist doch wohl das Allerletzte.

    Muttchen, beantragen Sie einen Betreuer, der Ihnen darin unter die Arme greift.

    Nee, was hier in D möglich ist! Hat 3 Kinder großgezogen, gearbeitet und sitzt nun auf der Straße; Und selbst wenn das nicht, hat das keiner verdient. Ich höre immer wieder mal, Obdachlose wollten ja gar keine Wohnung mehr. Auf die, die ich kenne, hat das keinesfalls zugetroffen. Das kann wahrscheinlich jeden erwischen, auch mich. Was ist das für ein Land?

    Mehr von solchen Berichten, liebe taz, regelmäßig, dass die in Watte gepackten endlich mal munter werden.

    Muttchen, ich wünsche Ihnen in Ihrem Leben alles Gute! Im April bin ich in Hannover und werde den Kröpkeplatz mal ansteuern.

  • Vielen Dank für diesen Artikel!

     

    Liebes "Muttchen", ich wünsche Ihnen alles Gute in der Hoffnung, dass sie glücklich sind- oder sehr bald wieder werden!

     

    Ich selbst war "nur" drei Monate obdachlos, zum Glück im Spätsommer. Ich hatte in einem Hamburger Park "gelebt", unbehelligt vor Gewalt oder Vertreibung.

     

    Ich habe einige Fragen:

    Wünschen Sie sich eine Wohnung? - Das wäre die Kern-Entscheidung.

    Was halten Sie von Gesetzlicher Betreuung? - Einfach zum Amtsgericht gehen und dort mündlich beantragen.

    Gehen Sie zum Sozialamt und beantragen dort Wiedereingliederungshilfe? - Man kann auch zum Psycho-sozialen Dienst oder einer Bahnhofsmission gehen.

    Können Sie sich auf betreutes Wohnen einlassen?

    Müssen Sie stationär im Krankenhaus behandelt werden? - Zur Notaufnahme oder PIA gehen. Während des Aufenthaltes gibt es die Sozialberatung.

     

    Mir haben diese Schritte damals sehr geholfen.

    Auch wenn ich mich oft dysfunktional und auto-aggressiv verhalte.

     

    Mich würde es freuen, wenn "Muttchen" diese Fragen erreichen.

     

    Meine Bitte an alle in Watte gepackt lebenden Menschen:

    Bitte nehmt fünf Minuten Zeit, wenn ihr Obdachlose seht, um mit ihnen zu sprechen.

    Immer wieder.

    Deren Situation ist oft verhärtet; das Vertrauen geschwunden.

     

    Ich lebe von Grundsicherung und bin schwerbehindert. Ich möchte helfen, bin dazu aber kaum in der Lage.

    • @Dusterbraut:

      Vielen Dank für Ihren Beitrag!

       

      Oft können Worte Leben retten!

       

      Deutschland braucht viel mehr Menschen wie Sie!