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Nuklearmediziner über Fukushima"Jodtabletten an alle verteilen"

Japan ist auf die Katastrophe so gut vorbereitet wie kein anderes Land, sagt der Nuklearmediziner Christoph Reiners. Es gibt Medizin, Messgeräte und Notfallstationen.

Bestens auf Katastrophen vorbereitet: Ein Kind wird auf Strahlung untersucht. Bild: dapd
Heike Haarhoff
Interview von Heike Haarhoff

taz: Herr Reiners, die japanische Regierung warnt erstmals vor einer Gesundheitsgefährdung durch radioaktive Strahlung. Was genau droht der japanischen Bevölkerung?

Christoph Reiners: Der Unfall geht weit über die Reichweite der havarierten Anlage hinaus, das heißt, die drohenden Gesundheitsschäden sind nicht mehr lokal begrenzt. Aus den Erfahrungen von Tschernobyl wissen wir, dass die engere Gefahrenzone nach einer Explosion im Reaktor und einer eintretenden Kernschmelze die 30-Kilometer-Zone um das Atomkraftwerk ist. Diese wurde evakuiert. Das ist gut und richtig.

Was, wenn die radioaktive Wolke direkt auf den Großraum Tokio zieht? 35 Millionen Menschen leben dort. Die kann man unmöglich alle evakuieren. Wie kann man sie schützen?

Gefährlich für die Bevölkerung dort ist vor allem das austretende radioaktive Jod, das Schilddrüsenkrebs hervorrufen kann. Durch die Verteilung und Einnahme von Jodtabletten kann man diese gesundheitlichen Folgen aber eindämmen.

Wie genau?

CHRISTOPH REINERS

65, ist ärztlicher Direktor am Uniklinikum Würzburg. Der Professor für Nuklearmedizin ist Spezialist für strahlenverursachten Schilddrüsenkrebs. Er behandelte vor allem strahlengeschädigte Kinder rund um Tschernobyl. Dafür wurde er mehrfach ausgezeichnet.

Vor allem dürfen die Menschen nicht in Panik verfallen. Es ist wichtig, Jodtabletten an alle zu verteilen. Das wurde damals in Tschernobyl versäumt. In Japan ist dafür noch Zeit. Wenn die Wolke dann tatsächlich durchzieht - und über diese Information verfügen die japanischen Behörden -, müssen alle Menschen in ihren Häusern bleiben.

Wie groß ist das Zeitfenster, um das Jod einzunehmen?

Frühestens 24 Stunden vor dem Durchzug der Wolke muss man die Tabletten einnehmen oder 24 Stunden danach. Innerhalb dieses 48-Stunden-Zeitfensters gibt es die Flexibilität.

In Deutschland haben bereits Jodtabletten-Hamsterkäufe begonnen. Haben Sie Erkenntnisse darüber, ob die japanischen Behörden über genügend Jodtabletten verfügen?

Ich bin relativ oft in Japan, zuletzt vor zwei Wochen bei einem Treffen der Weltgesundheitsorganisation. Wir haben uns über den Umgang mit Strahlenunfällen ausgetauscht. Die Vorbereitung der Japaner auf Katastrophen ganz generell ist ausgezeichnet.

Das können Sie beurteilen?

Ich beziehe mich dabei auf aktuelle Medienberichte. Es gibt Notfalltrainings für die Bevölkerung und flächendeckende medizinische Notfallstationen. Insofern kann man hoffen, dass auch Tabletten in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen und die Bevölkerung Zugang zu ihnen hat.

Wie bereitet man sich auf Strahlenunfälle vor?

Die Japaner haben Messstationen eingerichtet, sogenannte Notfallstationen, in denen die evakuierte Bevölkerung aus der Krisenzone untersucht wird, damit keine Kontamination verschleppt wird. Die Leute, die das machen, sind mit den richtigen Geräten ausgerüstet. Falls jemand eine Strahlenbelastung hat, registriert man die Dosis. Das ist für die spätere Nachsorgephase wichtig.

Warum?

Strahlenschäden treten meist erst nach Monaten oder Jahren auf. Bei den Kindern und Jugendlichen, die nach dem Tschernobyl-GAU an Schilddrüsenkrebs erkrankten, brach die Krankheit im Schnitt nach zehn Jahren aus. Das bedeutet im Umkehrschluss: Erste Knoten können durch regelmäßige Ultraschallvorsorgeuntersuchungen frühzeitig entdeckt und der Krebs dann operiert werden. Mit einer nuklearmedizinischen Nachbehandlung binnen eines Jahres kann Schilddrüsenkrebs durchaus geheilt werden.

Wer ist besonders gefährdet?

Kinder, Jugendliche und Schwangere. Bis zum Abschluss des Wachstums teilen sich die Körperzellen sehr rasch und reagieren sensibel auf den Störungseinfluss von Strahlen.

Gibt es einen speziellen Schutz für sie?

Leider nein.

Es ist aber nicht nur Jod freigesetzt worden, sondern auch Cäsium, möglicherweise auch Plutonium.

Die Gefahr ist tatsächlich, dass auch Plutonium freigesetzt werden wird. Plutonium setzt sich zwar - anders als radioaktives Jod - vor allem in der näheren Umgebung des Reaktors ab. Aber es ist ein Alphastrahler: Seine Strahlengefährlichkeit ist 20-mal höher als die von Gammastrahlen wie bei Jod-131 oder Cäsium-137.

Welche Krankheiten löst das Einatmen von Plutonium aus?

Plutonium lagert sich in den Knochen und in der Lunge ein und kann zu Lungen- oder Knochenkrebs führen, mit geringen Heilungschancen.

Welche gesundheitlichen Spätfolgen drohen aufgrund der atomaren Katastrophe?

Die Erfahrung von Tschernobyl zeigt, dass das Hauptrisiko die Entwicklung von Schilddrüsenkrebs ist. Nach Tschernobyl gab es 6.000 Fälle von kindlichem und jugendlichem Schilddrüsenkrebs in den angrenzenden Regionen. Nur 15 sind gestorben, davon die Hälfte an Krebs, die anderen an anderen Ursachen. Das relativiert die Aussagen, Tschernobyl habe Millionen Tote gefordert.

Sind die Japaner auch deswegen so gut aufgestellt in der Nuklearmedizin, weil sie die schreckliche Erfahrung mit den Atombombenabwürfen 1945 haben?

Man muss vorsichtig sein, die Effekte der Bombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki mit der jetzigen Reaktorkatastrophe zu vergleichen. Bei Nagasaki waren etwa 600.000 Menschen der Explosion akut ausgesetzt. Es gab eine enorme Sprengwirkung, viele sind an den Verbrennungen gestorben und an der akuten Strahlenkrankheit, wie sie bei extremen Dosen auftritt. Das ist mit der Situation in Fukushima - so schlimm sie ist - nicht zu vergleichen.

Trotzdem gibt es verheerende Spätfolgen, Missbildungen, Genveränderungen.

Es gibt eine Gruppe von 150.000 Überlebenden der Atombombe, die sehr engmaschig überprüft wird. Darauf beziehen sich übrigens unsere Erkenntnisse über strahlenverursachten Krebs. In dieser Überlebendengruppe sind 800 zusätzliche Fälle von Krebs aufgetreten. Das wissen die Japaner. Deswegen verfallen sie nicht in Panik. Die Langzeitrisiken sind eben gerade nicht so hoch, wie teilweise vermittelt wird.

Wollen Sie damit sagen, es gebe keine strahlenverursachten Erbschäden?

Wir wissen durch die Untersuchungen der Überlebenden, dass das Risiko hierfür nicht höher ist. Weder in Hiroshima noch Nagasaki sind Fehlbildungen häufiger gefunden worden, als das normalerweise für die jeweilige Bevölkerungsgruppe der Fall ist.

Wird die unmittelbare Region um das AKW herum jemals wieder bewohnbar sein?

Vermutlich wird es auch in Japan, ähnlich wie in Tschernobyl, eine engere Zone von einigen Kilometern geben, die nicht mehr bewohnt werden sollte. Aber große Teile der 30-Kilometer-Zone werden wieder bewohnbar sein.

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10 Kommentare

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  • A
    Akret

    Auch wenn ein Land gut auf eine solche Katastrophe vorbereitet sein mag, stellen Atomkraftwerke eine Technik dar, die eben vollständig ausser Kontrolle geraten kann. Sehr bedauerlich für die Menschen in Japan aktuell und für mich schwer zu glauben, dass man in einem solchen Fall wirklich umfassende Schutzmaßnahmen für alle treffen kann.

    Weg mit solchen gefährlichen Technologien und her mit umweltverträglichen Kraftwerken! Es wird nun wirklich langsam Zeit ökologisch umzurüsten, das sieht man jetzt deutlicher denn je!

  • NN
    none none

    @redaktion: euch ist schon klar das es keine radio aktive strahlung gibt? das nennt sich ionisierende strahlung... da die strahlung selber nicht radioaktiv sein kann... sondern nur die materialien (z.b. iod)

  • BS
    Bernd Schlüter

    Es gibt nun wirklich übertriebene Strahlenphobie, aber was ich hier lese, schlägt dem Fass den Boden aus.

    Herr Reiners war nie in Weißrussland.

  • H
    Heiner

    ..das ist eine Verharmlosung einer schrecklichen Tragoedie.

    Offensichtlich ist dieser Nuklearmediziner nicht unabhaengig.

    Die Bilder der Opfer von Tchernobyl gehen mir nicht mehr aus dem Kopf.

    Es ist eine Schande diese Gefahren herunterzuspielen.

    Plutonium strahlt zig-tausende von Jahren - was fuer ein Irrsinn !

     

    Weg mit dieser furchtbaren Technologie.

  • F
    frank

    Solche Berichte verschleiern auch die Tatsache, dass diese Technik nicht zu beherrschen ist, wenn es zum Gau kommt. Und das alleine reicht ja eigentlich aus, um alle AKWs abzuschalten.

  • M
    Mark

    Thank you for smoking gesehen? "Und ich kann nur immer wiederholen: Es gibt keinen erwiesenen Zusammenhang zwischen Tabakrauch und Lungenkrebs!"

     

    Ein Thema, das Herr Reiners völlig außen vor lässt, sind die 200.000-800.000 Liquidatoren, von denen natürlich keiner aufgrund der Strahlung gestorben ist.

  • RD
    R. Dieter

    Offenbar zaehlt der gute Direktor nur die von ihm in Wuerzburg behandeleten Patienten auf, denn anders kann ich mir die Diskrepanz zwischen seinen Zahlen und denen in der einschlaegigen Forschungsliteratur nicht erklaeren. Was die Langzeitstudie betrifft luegt dreisst. Jeder kann ohne einen teueren Blick in die Literatur allein mit den Daten von Wikipedia (Strahlenrisiko) nachrechnen dass drastisch mehr Menschen an strahlenverursachtem Krebs starben (s.u.).

     

    Statt eines Medicus, der als heimlicher Pressesprecher eines Energieriesen sein Taschengeld aufbessert, sollten sie lieber mal mit einem meiner Kollegen der Umweltbiologie sprechen. Das ehemalige Kernforschungszentrum Juelich hat bspw. umfangreiche Forschung zu Langzeitfolgen von Tschernobyl durchgefuehrt.

     

    Wie der Doktor luegt: Erstens hat er die Leukaemie-Faelle nicht einmal erwaehnt und selbst wenn man nur die "soliden" Tumore beruecksichtigt war die Zahl der Toten drastisach hoeher als die 800 Toten von 150.000 Probanden, die er angibt. Die Krebstotenrate lag nach der Studie, die er anbringt in Wahrheit bei bei 20 Personen pro 10.000 Menschen und Jahr - 30 Jahre nach Abwurf. Das waren allein 300 Tote fuer die von ihm genannten 150.000 Menschen pro Jahr. Seither sind 25 Jahre vergangen und selbst wenn die Rate nicht immer weiter gestiegen waere entspricht das mindestens 7500 Toten. Wenn unser Atom-Lobby-Doktor Daten aus frei zugaenglichen Studien faelscht, dann bitte nicht in Artiklen der taz. Hier lesen Menschen, die mitdenken und evt. selbst forschen!

  • A
    Augusta

    "Die Gefahr ist tatsächlich, dass auch Plutonium freigesetzt werden wird. Plutonium setzt sich zwar - anders als radioaktives Jod - vor allem in der näheren Umgebung des Reaktors ab. Aber es ist ein Alphastrahler: Seine Strahlengefährlichkeit ist 20-mal höher als die von Gammastrahlen wie bei Jod-131 oder Cäsium-137."

     

    Mit dem Medikament Radiogardase gibt es allerdings noch eine gewisse Chance, gegen diese Vergiftungen anzugehen. Ich hoffe, Japan hat sich vorausschauend eingedeckt. Ich hoffe sehr, dass sich die Verstarhlung dort in Grenzen hlten lässt.

  • R
    Rod

    Die Millionen Strahlentoten durch Tschernobyl gibt es auch nicht in der unmittelbaren Umgebung. Denn in Ternobyl ist der Reaktor explodiert und der Dreck wurde gleich in die Athmosphäre geschleudert.

     

    Das meiste davon ist über Tschechien und Bayern niedergegangen. In Bayern stellt man heute eine deutliche höhere Leukämirate fest. Auch Frankreich hat einiges abbekommen.

     

    Die Menschen sterben auch nicht sofort, sondern Krebs bricht erst Jahre später und langsam aus. In Nagasaki und Hiroshima kommen heute noch mißgebildete Kinder zur Welt, die Rate an Krebserkrankungen ist erschreckend hoch - es sterben noch heute Menschen daran!!!

     

    Die Millionen von Toten sind Realität! Nur weil sie nicht sofort sterben, sondern möglicherweise über Jahre hinweg heißt es nicht, dass sie nicht da sind.

     

    Und Statistiken wie in Tschernobyl sind garantiert gefälscht. Jeder Arzt kann jedes Symptom geschickt umdeuten!

     

    Ich gehe davon aus, dass man auch in Japan die Statistiken fälschen wird. Ärzte oder Krankenhäuser die eine höhere Krebsquote als andere ausweisen wird man auf die eine oder andere Art versteckt sanktionieren, so dass sie eine Motivation haben andere Ursachen zu finden oder Symptome unzudeuten.

     

    Im Übrigen ist ein eigener Geigerzähler gar keine schlechte Idee. Sie werden sehr überrascht sein, wie sehr manche Lebensmittel belastet sind, obwohl von Japan hier noch nichts angekommen sein dürfte.

  • H
    Hans

    Alle Vorbereitung nützt nichts, wenn es am Ende kracht. Die können noch so viel Jod schlucken, Strahlung bleibt Strahlung und wenn sie über die rote Linie geht, dann gibt es gesundheitliche Konsequenzen, im Zweifel irgendwann Krebs.